Carl Tillessen über Kleidung für Politikerinnen: „Frauen können es gar nicht richtig machen“

Politik

Kleider machen Leute, aber machen sie auch Politik? Welche Zeichen Accessoires, Hemden und sogar Uniformen setzen könnten, darüber spricht Carl Tillessen im Interview. Es geht um Authentizität, Abgrenzung und die zutiefst patriarchale Ordnung von Kleidungsgewohnheiten.

Amtskolleg*innen Nikos Dendias und Annalena Baerbock in Athen. Foto: The Hellenic Ministry of Foreign Affairs/unsplash. Aufgenommen um Juli 2022.

Carl Tillessen ist Leiter des Deutschen Mode-Instituts (DMI) und als Berater sowie Analyst in Lifestyle- und Modefragen tätig. Das DMI untersucht globale Trendstrukturen im Gebiet der Mode und setzt sich intersektional mit der Bedeutung dieser auseinander. Tillessen lädt in ein Restaurant in Berlin-Schöneberg. Dunkel getäfelte Optik, Stuck an den Wänden. Wir bestellen zwei Wasser.

politikorange: Warum wird die Kleidung von Politikerinnen noch heute anders bewertet als die ihrer männlichen Kollegen?

Carl Tillessen: Das ist natürlich überhaupt nicht zu entschuldigen und bestenfalls über veraltete Rollenbilder zu erklären. Die Objektifizierung ist bis heute ja nicht vorbei. Sätze wie „eine Frau ist, was sie ist; ein Mann ist, was er macht“ beurteilen Frauen ja als passiv und wenn Frauen nicht anhand ihrer Taten beurteilt werden, rückt das Äußere mehr in den Fokus. Aber das Ganze hängt auch damit zusammen, dass es da mehr zu sehen gibt. Selbst bei den Politikerinnen, die sich schon sehr streng gekleidet haben, gab es noch einen Schmücker, eine Sache. Broschen, Taschen oder etwas Vergleichbares. Deshalb stechen sie auf den Gruppenfotos bis heute heraus.

Mittlerweile verzichten Frauen aber unseren Analysen nach auch schon großflächig darauf, Kamala Harris trägt beispielsweise kaum Accessoires. Mich ärgert es tatsächlich, dass Männer in Schmückern keinen Mehrwert sehen. Kleidung sollte als Kommunikationsmittel genutzt werden.

Also ist die bessere Alternative zu „strenger“ Kleidung vielmehr, dass alle sich Gedanken über die transportierte Botschaft machen?

Ja und ich finde auch, dass männliche Politiker einem vieles über ihre Anzüge sagen. Es geht immer um Zugehörigkeit und Abgrenzung. Bei der Union hat man meistens das volle Programm, also weißes Hemd, blauer Anzug und Krawatte. Wenn ich über Frauen der Partei nachdenke, fällt mir nichts auf Anhieb ein. Da gibt es kaum diese Schablone. Auch bei der SPD ist das schwierig. Männliche SPD-Abgeordnete haben auch ein weißes Hemd, vielleicht den ersten Knopf offen, um etwas weniger konservativ zu wirken.

Bei der FDP würde ich einen klassisch silbergrauen Anzug mit einem weißen Hemd erwarten, auch etwas geöffnet, tailliert geschnitten. Das ist aber auch sehr durch Christian Lindner geprägt. Die Grünen haben jetzt oft durch Habeck dieses Bild vom lockeren Hemd mit Jeans. Annalena Baerbock prägt durch schlichte Kleider, die nicht zu einengend sind, aber immer hochgeschlossen.

Und die AfD nutzt meist Chambray-Hemden, Motivkrawatten, Einstecktücher, Tweed-Sakkos, Broken Suits—all das, was unter „old-money“ fällt. Die Politikerinnen tragen auch oft Tweed-Blazer. Alice Weidel hat immer ihre Perlenkette. Es gibt viele hellblaue Blusen. Das ist dann dieses Pendant im Konservativen.

Wir Deutschen sind generell weniger prahlerisch in der Öffentlichkeit, unsere Politiker*innen haben Skrupel, die gleichen Auftritte wie extravagante andere Regierende an den Tag zu legen.

Die Grünen sind ja deutlich konservativer geworden, spiegelt sich das auch in ihrer Kleidung wider?

Ja, sie signalisieren: Wir sind in der Mitte angekommen. Es gibt keine Rastalocken, keine klassischen Pullis und “Öko”-Outfits mehr. Das klassische Hemd zeigt: Wir sind die Realos und stehen auch für Wirtschaftswachstum und Kompetenz im Bereich Wirtschaft generell.


Carl Tillessen. Foto: privat

Wird reicher aussehenden Politiker*innen dann mehr Kompetenz in der Wirtschaft zugetraut?

Ja, das ist ein Paradox, oder? Im Politischen und Geschäftlichen ist das ganz wichtig. Das ist absurd. Politiker*innen sollen nicht reich sein, aber dann wollen wir, dass sie trotzdem so aussehen. Dann vertrauen wir darauf, dass sie besser mit dem Geld des Landes haushalten, obwohl und gerade weil sie vielleicht für mehrere tausend Euro einen Anzug tragen. Es ist merkwürdig, dass wir alle anscheinend von Reichen vertreten werden wollen.

Abfällige Kommentare und reine Bewertung ihrer Körper sind vor allem bei Politikerinnen auch Teil der Berichterstattung.

Gewissermaßen wird immer etwas bemängelt. Frauen können es da gar nicht richtig machen. Entweder wird sich beschwert, dass zu viel Aufmerksamkeit auf das Aussehen verwendet wird, dann wird frau zum „Modepüppchen“ deklariert. Kosten für das Outfit werden ausgerechnet und wenn die Leute finden, es ist zu viel, wirst du angegriffen. Wenn es zu wenig ist, dann wird bemängelt, dass die Frauen das Land nicht respektabel repräsentieren.

Und bei Männern gibt es das nicht?

Naja, meistens nicht. Nur wenn wie damals bei Gerhard Schröder öffentlich wird, dass er Brioni trägt, dann fangen die Leute an, nachzurechnen. Aber normalerweise interessiert das keinen. Ich sehe, wenn jemand einen sehr teuren Anzug anhat, aber für die meisten sieht das ja alles gleich aus. Deshalb gibt es dieses „zu wenig, zu viel“ nicht, solange kein Skandal entsteht.

137.000 Euro hatte Annalena Baerbock 2024 angeblich für ihre Stylistin ausgegeben. Ein Aufschrei scheint da schon fast vorprogrammiert. Sollte Mode, Maske und Co. ein geregeltes Budget haben, sodass alle Politiker*innen transparent dieselben Ausgaben tätigen dürfen? Würde das der Unzufriedenheit die Luft aus den Segeln nehmen?

Nein, ich denke, die Chance, etwas auszudrücken, ist viel zu groß. Machen wir uns nichts vor, wir können nicht nichts aussagen mit unserer Kleidung. Und Politiker*innen können sich dem ebenso wenig entziehen, deshalb gilt es, die Botschaft zu transportieren, die zu einem passt. Es gibt keine Neutralität.

Ein schwarzer Blazer, weißes Hemd, schwarze Hose könnten nicht neutral sein?

Nur wenn alle das tragen würden.

Könnten Sie sich eine Uniform vorstellen?

Interessante Idee. Die Bilder aus der DDR früher, wo oft alle gleich angezogen zusammengearbeitet haben, die haben ja eine utopische Schönheit von Egalität. Aber historisch haben diese strengen Regeln immer dazu geführt, dass Leute sich darüber profilieren, dass sie diese Regeln brechen. Wie Joschka Fischer mit seinen Turnschuhen in den 1986ern. Die sagten: „Ich bin jung, unkonventionell, innovativ“. Das hat diesen „Alt-Hippie-Look“ maßgeblich beeinflusst. In der Folge hatte es sich irgendwo zwischen solchen Elementen aus der Freizeitkleidung und dem klassisch strengen Anzug eingependelt. Bis die AfD kam. Der Landadels-Stil ist natürlich nicht neu, aber damit sind sie den Kordanzügen der Altachtundsechziger zu nah gekommen, was dann zur Rückkehr der klassischen dunkelblauen Anzüge führte.

Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1968. 1. Reihe von l.n.r.: Hermann Matern, Erich Honecker, Walter Ulbricht – erster Sekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR – Willi Stoph und Friedrich Ebert. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-G0726-0206-001 / Junge, Peter Heinz / CC BY-SA 3.0

Was könnte innenpolitisch für eine Uniform sprechen und was dagegen?

Diese Art Demut gegenüber dem Volk. Ich denke, es würde symbolisch eine große Schlagkraft haben, es zeigt, wem die Politiker*innen sich zum Dienst verschreiben. Es ist ja immer die Herausforderung, den richtigen Ton zu treffen, in puncto Kosten, aber auch bei der Frage, wie auffällig etwas ist. In der Betriebswirtschaftslehre spricht man vom Kontextproblem. Jemand verhält sich in bestimmter Kleidung, zum Beispiel Uniform, tendenziell anders als als Privatmensch. Ein Kellner geht in einer Schürze anders mit unfreundlichen Kund*innen um, als es die Privatperson tun würde. Das heißt, eine Uniform könnte einen zum Funktionär machen.

Das Dilemma ist, dass wir das nur für Männer definiert haben. Es sind diese Anzüge, Krawatten et cetera. Bei Frauen fehlt dieser Code: Wie sieht die Funktionärin aus? Das ist die Spätfolge dieser Ungleichheit aus der Vergangenheit, die sich in der Mode wiederfindet. Die einzige Möglichkeit scheint oft, die weibliche Variante eines männlichen Klischees zu suchen.

Kleidung ist aber nur ein kleiner Baustein dieser politischen Etikette, bei der es zum Beispiel darum geht, wer wem die Hand gibt, wer wo steht und so weiter.

Annalena Baerbocks Termin in Syrien und ihre Kleidung hatten ja für viel Wirbel gesorgt. Wie wichtig sind Signale auf dieser Ebene außenpolitisch?

Sie hätte etwas Provozierendes tragen können, hat sie aber nicht. Trotzdem wurde es so bewertet, was stark an eine Täter-Opfer-Umkehr erinnert. Ihr Kleid war plötzlich zu hell und zu eng, während die Männer in viel zu engen Anzügen daneben standen. Ich war total begeistert von ihrem Auftreten, aber der Moment hat doch gezeigt, in welcher Situation wir uns global immer noch befinden. Dass die neuen, vermeintlich liberalen Machthaber nicht unbedingt weniger frauenfeindlich sind. Ein Beispiel: Nathalie Amiri kann als ARD-Korrespondentin nur aus dem Iran berichten, wenn sie ein Kopftuch trägt. Man würde sich mit Blick auf die Wirkung wünschen, dass sie keins anzieht. Aber oft fallen die großen Signale dann dem Pragmatismus zum Opfer.

Donald Trumps Kleidung wird oft als V-Form beschrieben, er trägt große Schulterpolster und lange Krawatten. Wofür steht das ihrer Meinung nach und warum wird er so gekleidet?

Auf den ersten Blick könnte man sagen, ist ja ein sehr normaler Look. Rote Krawatte, blauer Blazer. Aber die Krawatte trägt er beispielsweise sehr lang. Das kommt aus einer Zeit, wo Hosen einen höheren Bund hatten und sie eben bis zum Hosenbund reichten. Es hat also etwas Konservatives, schon fast widerspenstiges. Außerdem hat auch der Schnitt seines Anzugs eine maximal uneitele Außenwirkung und verkörpert dieses klassisch heterosexuelle Bild eines Mannes, diese Egal-Haltung Kleidung gegenüber. Aber wie gesagt, auch das ist geplant. Es ist ihm nicht egal.

Gegenstücke wären Emmanuel Macron oder Justin Trudeau, die sich körperbetontere Anzüge schneidern lassen und augenscheinlich Wert darauf legen, vorteilhaft, vielleicht sogar als attraktiv wahrgenommen zu werden.

Trump dagegen ist ein großspuriger Typ und das ist sein großspuriger Anzug. Aber trotzdem signalisiert der Anzug, dass ihm Trends egal sind, es ist ein betont unmodischer Anzug, der eine sehr reaktionäre Haltung offenbart. Und am Ende stellt sich die Frage, hat das einen Vorteil, sich weniger ästhetisch zu kleiden, damit sich die Menschen eher auf das Gesagte konzentrieren?

Viele erfolgreiche weibliche Politikerinnen haben und hatten Kurzhaarschnitte. Angel Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer…

Früher gab es diese Annahme, Frauen müssten auf jeden Fall männlich auftreten, sich so kleiden, frisieren, um in der „Männerwelt“ zu arbeiten. Diese gängige Auffassung hinterlässt ihre Spuren. Das fängt schon damit an, dass die meisten Menschen Seriösität mit Hosen verbinden, mit Röcken aber eher nicht. Farbe wird immer noch als weibliches Mode-Attribut gesehen.

Schaden weibliche Attribute oder weiblich gelesene Kleidung ihren Träger*innen?

Ja, weil die männliche Figur in der Öffentlichkeit gesetzt ist. Und die Annäherung männlicher und weiblicher Kleidung findet ja nur einseitig bei Politikerinnen statt. Kein Politiker kleidet sich weiblicher und so bleibt der männliche Dresscode der Standard. Das Perfide an Frauenmode ist ja auch, dass sie ohnmächtig macht, hilflos. Schuhe, in denen das Laufen schwer fällt oder taschenlose Kleidung. Das will ja niemand freiwillig adaptieren.

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre, in Frauenkleidung mehr Taschen vorzusehen, statt ihnen Handtaschen zu verkaufen. Auch die Diskrepanz bei der sexualisierenden Betrachtung und Bewertung von Frauen und Männern muss aufhören. Im letzten Bundestagswahlkampf habe ich zum ersten Mal bewusst gesehen, dass ein männlicher Politiker, nämlich Robert Habeck, als Strategie dieses erotisierende Element genutzt hat.

Worauf spielen Sie an?

Tillessen scrollt auf dem Handy, sucht Habecks Instagram-Profil heraus. Scholz sieht auf Plakaten immer so passbild-mäßig aus, Habeck zeigt etwas mehr Körper. Auf seinem Instagram-Profilbild ist sein Schritt auf Augenhöhe und er krempelt seine Hemdsärmel hoch. Das ist ein interessantes Gegenstück zu anderen Politikern. Erotik wird hier zum ersten Mal Thema. Man(n) tut ja immer so, als wären Frauen von sich aus erotische Wesen. Und jetzt haben wir diese neue Bildsprache, die eben dieses vermeintlich weibliche Feld aufwertet.

Was hat sich Robert Habecks Team von dem tendenziell lasziven Auftritt erhofft?

Ich glaube, dahinter stand die realistische Einschätzung, dass soziale Medien wie Instagram wegen ihrer Reichweite wichtig, aber eigentlich für politische Inhalte ungeeignet sind. Und die Thirst Trap ist das, was dort immer noch am besten funktioniert. Mit nichts sammelt man auf Instagram so viele Clicks und Likes wie mit erotischen Signalen.

Gibt es erste Erkenntnisse, ob Ihnen das geholfen oder geschadet hat?

Darüber weiß ich nichts. Ich glaube aber: weder noch. Wenn man Robert Habecks Wahlkampfposts überfliegt, ist jedenfalls kein Zusammenhang zwischen Körpereinsatz und Views und Likes zu erkennen. Auf seinem Profilbild ist inzwischen wieder sein Gesicht, statt sein Schritt zu sehen.

Männer eignen sich hier ja ein den Frauen immer vorgeworfenes Spiel mit ihren “Reizen” an. Warum wird das auf einmal gewollt?

Mein Eindruck ist, dass die Parteien inzwischen – unabhängig vom Geschlecht – versuchen, wirklich jede irgendwie positive oder attraktive Eigenschaft ihrer Kandidaten auszuspielen, egal ob diese im Zusammenhang mit dessen politischer Eignung steht oder nicht.

Herr Tillessen, vielen Dank für das Gespräch.

Sehr gern.


Der Artikel ist im Rahmen der offenen Redaktion entstanden. Bei Fragen, Anregungen, Kritik und wenn ihr selbst mitmachen mögt, schreibt uns eine Mail an redaktion@jugendpresse.de 

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