Von der Antike zum Imageboard. Wenn Online-Frauenhass auf das antisemitische Konto einzahlt.

TW: Hass, Gewalt, Antisemitismus, Rassismus, Misogynie 

Antisemitismus reicht bis in den Antijudaismus, die religiös motivierte Judenfeindschaft der frühen Christ*innen, zurück. Viele der dort gestreuten Vorstellungen, zum Beispiel die Kindsmordlegenden und Assoziationen mit dem Teufel, reichen bis in die Moderne. Hier hat der Antisemitismus eine neue vernichtende Qualität angenommen, wie sie im nationalsozialistischen Deutschland umgesetzt wurde. Im Internet wächst nun seit mehreren Jahren eine Generation von Tätertypen heran, die sich antisemitisch und auch rassistisch, aber vor allem frauenverachtend geben: Der Tätertypus „pilled“. 

Wo die Hüllen fallen

Die Plattform ‚4chan‘ ziert ein glücksbringendes Vierkleeblatt. Auf ‚8chan‘ erinnert eine liegende Acht an das Unendlich-Zeichen aus Tumblr-Zeiten. Öffnet man die Seite ‚Reddit‘, lächelt einem ein rotes Alien-Maskottchen entgegen. 4chan, 8chan und Reddit sind Imageboards (ugs. ‚Chan‘). Eine Art von Internetforen, auf denen User anonym Texte und Bilder austauschen können. Begibt man sich weiter in die Tiefen solcher Foren, stößt man auf Orte, in denen männliche User gekränkter Männlichkeit, Sexismus und Antifeminismus, sowie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit freien Lauf lassen. Unter ihnen, die „wahnhafte Spitze“ der Frauenhasser, die Incel. Allen gemein ist die Überzeugung, dass Männer heutzutage benachteiligt würden, der Feminismus an allem schuld sei und Frauen schlichtweg zu verachten seien. Hier tobt ein Gewitter aus frauenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Hassbotschaften. Unter anderem werden die Täter vergangener Anschläge in Kalifornien 2014, Toronto 2018 und Christchurch 2019 gefeiert. Auch von dem antisemitischen Halle-Attentäter wird vermutet, in dieser Reihe von tötungsbereiten, jungen Männern zu stehen. Am 9. Oktober 2019 versuchte er, schwer bewaffnet und anlässlich des hohen jüdischen Feiertages Jom Kippur, in eine Synagoge einzudringen. Alle Täter nahmen aus antisemitischen, misogynen und/ oder rassistischen Gründen viele MenschenlebenDoch vor allem ist allen gemein, dass sie sich online radikalisierten. 

rot-blaue Pillen in einem Glas. Foto: Unsplash (Bruno Guerrero)

„absoluter Absturzort“  

Die Ideologie von Antifeministen ist von einer Pillen-Metapher gecodet. Die Metapher ist einer Szene aus dem Science-Fiction-Film Matrix” (1999) entnommen. Dort steht der Protagonist Neo vor der Wahl, eine blaue oder rote Pille zu schlucken. Fällt seine Wahl auf die blaue Pille, kann er wie bisher weiterleben. Entscheidet er sich hingegen für die rote, erfährt er die Wahrheit über die Welt, die in Wirklichkeit computergesteuert ist. Red Piller“ behaupten also von sich, einen gesellschaftlichen Code geknackt zu haben. In ihrem Verständnis gesprochen meint das, eine von jüdischer Hand geführte Verschwörung erkannt zu haben, in der die Welt vom Feminismus beherrscht werde. Die Pillen-Metapher ist heutzutage zu einem beliebten Sinnbild von Verschwörungsgläubigen geworden, die das Schlucken einer Pille für die Erkenntnis über die wahren gesellschaftlichen Verstrickungen empfehlen. 

Die Gruppe von „Black Pillern“, die Incel, treiben den Antifeminismus auf eine misogyne Spitze. ‚Incel‘ steht für „Involuntary Celibate“, was konkret „unfreiwillig ohne Sex Lebender“ bedeutet. Denn eigentlich, im Verständnis der Incel gesprochen, stände dem weißen und heterosexuellen Mann von Natur aus ein angebliches Grundrecht auf Sex zu. Incels sehen sich selber als Opfer einer “jüdisch-feministischen Gesellschaft an, die sie diesem Recht beraubt. Weil Incel sich durch und durch unattraktiv finden, sei es für sie chancen wie aussichtslos in einer Welt wie dieser eine Beziehung einzugehen. Ihr Aussehen machen sie als Ursache ihrer scheinbaren Diskriminierung aus, ihren Selbsthass verlagern sie auf Frauen, die ihnen immer attraktive „Chads“ vorziehen würden – Der Begriff „Chad“ beschreibt den Prototypen hypermaskuliner Männer, die alles klischeehaft Männliche mitbringen. 

Melanie Hermann recherchiert zu dem Zusammenhang von Antisemitismus und Antifeminismus in der verschwörungsideologischen Weltsicht von Attentätern und ihren digitalen Milieus. In einem Interview erklärt sie, dass sich Incel-Foren, von einer Art Selbsthilfegruppe für Einsame, zu einem extremen Ort des Hasses gewandelt haben. Die männlichen User stacheln sich, mit dem Effekt einer Echokammer, gegenseitig zu Gewalt an. Wer Gewalt ausübt, wird in den Foren für seine „Incel Rebellion“ gefeiert. Wer es nicht zu Taten bringt, bleibt der klägliche Versager. Es ist wirklich so ein absoluter Absturzort und das ist auffällig. Auch der Umgang miteinander. Der ist extrem hart, unsolidarisch, auf Verletzung angelegt und es wird die ganze Zeit nur nach einer Projektionsfläche für den eigenen Hass gesucht, urteilt Hermann.  

Melanie Hermann ist Expertin für Verschwörungsideologien und Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung (AAS). In einer laufenden Vergleichsstudie untersucht sie Hintergründe, Weltbilder und Verschwörungsideologien von verschiedenen terroristischen Attentätern und School Shootern. Foto: Melanie Hermann

Die Angst zu verschwinden 

Hass ist laut Melanie Hermann ein „innerer Abwehrmechanismus, um eigentlich Angst zu vermeiden“. Das ist schon in der Struktur von Verschwörungsideologien, wie dem Antisemitismus angelegt. Verschwörungsideolog*innen haben ein manichäisches Weltbild – die Vorstellung davon, dass man die Welt passgenau in Gut und Böse einteilen könne. Verschwörungsgläubige stilisieren sich selber als Kämpfer auf der Seite des Guten. „Das, was im manichäischen Weltbild mit böse gemeint ist, ist ‚evil‘, also quasi an der Wurzel des Bösen.“ Dieser Kampf kann nur mit einem Sieg oder existentieller Niederlage enden. „Herr der Ringe mäßig gibt es nur den Untergang oder ewige Herrlichkeit“, so Hermann. 

„Wenn die Radikalisierung weiter fortschreitet, dann ist die einzige Möglichkeit sich vom Bösen zu befreien, das Böse zu vernichten. Und das ist das, was die so gefährlich macht. Die haben eine unglaublich große Radikalisierungswirkung, weil die immer diese Apokalypse-Rhetorik bedienen. Und weil das immer einen Aufforderungscharakter dazu hat, sich letztendlich mit derselben Gewalt zu wehren, die man dem Gegner unterstellt“, erklärt Hermann weiter.  Verschwörungsideolog*innen schaffen über diese Abgrenzung von dem Bösen und über den Kampf gegen das Böse ihre eigene Identität. „Das heißt, damit ich überhaupt zum Helden werden kann, muss es das Böse geben, das ich bekämpfen kann, muss es die Verschwörungsideologie geben, die ich aufdecken kann.“  

Hinter dem „Bösen“ stecke aus verschwörungsideologischer Sicht so gut wie immer ein jüdischer Feind, findet Hermann. Die Feindbildkonstruktion folge dem psychoanalytischen Begriff der „Schiefheilung“. Gesellschaftliche Dinge, die unheimlich erscheinen und belastend sind, unerwünschte Begierden und Emotionen würden dann abgespalten und in ein äußeres Feindbild projiziert werden. Im Fall der frauenhassenden Männer, ist eine solche Emotion der eigene Selbsthass. Schuld an der eigenen Situation sei man nie selbst. Der Feind im außen aber, der könne bekämpft werden. „Und dann, wenn ich das vernichtet habe, dann ist alles gut, dann bin ich gerettet. Das ist das große Heilsversprechen des Antisemitismus“, führt Hermann fort. Weil die eigene Existenz an Feindbildkonstruktionen gebunden ist, würde der Verlust desselben Feindes in der Logik bedeuten „zu verschwinden.“ 

Menschenfeindlichkeiten hängen zusammen 

Auch wenn die Onlinekulturen der Antifeministen und Incels keineswegs eine rein weiße Community sind – laut einer im März 2020 auf dem Forum incels.co geführten Umfrage sind nur knapp über die Hälfte der dortigen Mitglieder weiß stößt man auch auf Rassismus, sowie antisemitische Verschwörungsideologien. Die legen beispielsweise das Klischee von „Juden als Zuhälter“ ganz neu auf. Diese Stimmen behaupten, dass die Juden die Männer zur Pornosucht verleiten würden, um sie an ihrem Kampf gegen ihre scheinbar ungerechte Sexlosigkeit zu hindern. Solche Verschränkungen von antisemitischen Verschwörungsideologien, Antifeminismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind die treibende Motivation von terroristischen Anschlägen, wie dem in Halle. Zusammenhänge von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten zeigen sich auch in der letzten Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) über das Jahr 2022. Bei 19% aller antisemitischen Vorfälle war solch ein Ineinandergreifen der Fall.  

Auch von allein handelnden Tätern zu sprechen, die ihren eigenen Ideologien erliegen, gar zum Opfer fallen, reicht nicht aus. Die Motivation hinter dem Attentat auf die hallesche Synagoge wird in einem weltweiten online Netzwerk von Gleichgesinnten geteilt. Hinter angeblichen sogenannten lonely-wolf-Tätern steht ein ganzes Wolfsrudel von hasserfüllten Männern, die Gewalt als berechtigtes Rachemittel ihrer sexuellen Kränkung feiern. Das kann im schlimmsten Fall im Terrorakt münden. „Es ist ja nicht Zufall, dass die ganzen Attentäter, mit denen ich mich beschäftige, sich alle online radikalisiert haben und auch dort ihre Gefolgschaft bis heute haben und gefeiert werden“, findet auch Melanie Hermann. Das reicht der jetzigen Bundesregierung als Gefährdung nicht aus. Sie könne von der Incel-Ideologie, beziehungsweise ihrer Anhängerschaft in Deutschland, aktuell keine Gefährdungsrelevanz ableiten, heißt es in ihrem Statement zu der frauenhassenden Männerkultur. Welches Gefahrenpotential der Online-Mix aus antisemitischer Verschwörungsideologie, Rassismus, Frauen- und Selbsthass aber birgt, haben die tödlichen Folgen in Kalifornien, Toronto, Christchurch und Halle, um nur eine Auswahl zu nennen, gezeigt.

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