Einmal Toleranz mit Antisemitismus bitte

Antisemitismus lässt sich überall in unserer Gesellschaft finden. So ist es logisch, dass wir auch innerhalb von marginalisierten Gruppierungen Antisemitismus antreffen. Warum das so ist, was wir dem entgegnen  können und warum Organisationsstrukturen strukturellen Antisemitismus oft nicht auf dem Schirm haben, möchte ich in dieser Reportage herausfinden.

Demonstrant*innen beim CSD 2021 in Stuttgart. Foto: Unsplash/Christian Lau

Es ist Sommer 2023. Die Sonne scheint und ich freue mich auf die CSD-Saison. Mein Outfit ist seit Wochen geplant und hängt fertig im Schrank. Ich werde eine kurze Jeans zusammen mit einem schwarzen Mesh-Top tragen. Auf dem Top sind Blumen aufgestickt. Besonders stolz bin ich auf meine Regenbogen-Schuhe, die ich secondhand ergattert habe.  Gestern habe ich noch einmal kontrolliert, ob auch wirklich alles gewaschen ist. Die Angst, dass ich irgendwo einen Fleck auf der Hose habe und mein Outfit morgen dann spontan doch nicht tragen kann,  ist davon allerdings nicht verschwunden. Seit Wochen plane ich mit einer Gruppe von Menschen einen alternativen Block im CSD. Eine Laufgruppe, die für alle Queers offensteht und antifaschistisch ausgerichtet ist. Eine Gruppe, die kritisiert, dass Parteien wie die CDU oder die FDP auf dem CSD mitlaufen. Um mich abzulenken, öffne ich Instagram und mir ploppt eine Meldung auf. Ich lese, was dort steht und runzle die Stirn. Ein Autor der Taz schreibt, dass es auf der „Internationalistischen Queer Pride for Liberation“ in Berlin antisemitische Vorfälle gegeben habe. Ich schüttle den Kopf. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Die queere Community ist schließlich eine offene und tolerante Gruppe und stellt sich gegen Diskriminierung, da könne es ja nicht zu antisemitischen Vorfällen kommen. Schließlich wissen auch alle , die dort mitlaufen, wie es ist Diskriminierung zu erfahren. Ich öffne also meinen Internetbrowser und beginne mich etwas einzulesen. Und je mehr ich lese, desto aufgewühlter werde ich.

Parallel zum CSD in Berlin findet die „Internationalistischen Queer Pride for Liberation“ statt. Die „Internationalistischen Queer Pride“ ist nach ihren eigenen Aussagen ein Netzwerk von verschiedenen queeren und trans* Gruppen und Einzelpersonen. Der Marsch fand als Protest und Alternative zum offiziellen CSD in Berlin statt. Die Alternative sei ihrer Meinung nach notwendig, da eine queere Befreiung nur erreicht werden könne, wenn „rebellische Existenzen, die die Gewalt von Geschlechterbinarität, normative Körper- und Sexualpolitiken, koloniale Unterdrückung, die Kriminalisierung von Sexarbeiter*innen und die ständige ökologische Krise“ (Politisches Manifest – Internationalist Queer Pride for Liberation) herausgefordert würden. Dies sei beim offiziellen CSD nicht der Fall, weshalb sie ihre Parade als Protest auf die Straße bringen. In ihrem politischen Manifest schreiben sie außerdem, dass sie solidarisch mit den Kämpfen für Gerechtigkeit und Freiheit blieben und nennen in diesem Zusammenhang auch Palästina. Sie verurteilen außerdem unter anderem jegliche Form von Rassismus, Transfeindlichkeit, Sexismus, Kolonialismus. Über die Verurteilung von Antisemitismus lässt sich hingegen nichts in ihrem politischen Manifest nachlesen.

Die alternative Pride Parade wird dann parallel zum offiziellen CSD wie geplant durchgeführt und es kommt zu Vorfällen, die von Tageszeitungen als antisemitisch bezeichnet werden. So schreibt beispielsweise der Tagesspiegel darüber, genauso wie die Taz. Es soll bei der Internationalistischen Queer Pride for Liberation auf mehreren Ebenen zu Antisemitismus gekommen sein. So sollen Banner mit israelfeindlichen Parolen gezeigt worden sein, es sollen Parolen gerufen worden sein, die Israel das Existenzrecht absprechen und das Awareness-Team soll in Bezug auf Antisemitismus nicht sensibilisiert gewesen sein. Auch die explizite Solidarisierung mit Palästina wurde in diesem Kontext kritisiert. Ich habe versucht das Organisationsteam der Internationalistischen Queer Pride for Liberation zu erreichen, damit sie Stellung zu den Vorwürfen beziehen können. Bis Redaktionsschluss habe ich jedoch keine Antwort erhalten.

Demonstrant*in beim CSD 2023 in Stuttgart. Foto: Hanna Broghammer

Israelbezogener Antisemitismus

Die Vorwürfe gegen die Internationalistischen Queer Pride for Liberation beziehen sich vor allem auf israelbezogenen Antisemitismus. Das bedeutet, dass der Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Staat Israel geäußert wird. Israelbezogener Antisemitismus ist eine Form des Antisemitismus, die durch eine Art Umwegkommunikation funktioniert. Israel wird als Stellvertretung für Jüd*innen genannt. Weitere Facetten des israelbezogenen Antisemitismus sind die Aberkennung des Existenzrechts von Israel, das Anlegen doppelter Standards, historische Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder das Zuschreiben von Eigenschaften an Israel, die sonst Jüd*innen zugeschrieben werden. Oftmals wird Israel in dieser Form des Antisemitismus als Kollektiver Jude wahrgenommen. Durch die Äußerung der „Kritik“ an Israel ist der Antisemitismus jedoch nicht immer gleich offensichtlich.

„Die Leute denken eigentlich, dass sie auf der richtigen, guten Seite sind“

Ich spreche mit Kim Robin Stoller. Sie ist Mitbegründerin und Vorstandsvorsitzende des Internationalen Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist israelbezogener Antisemitismus.  Ich spreche mit ihr über Antisemitismus in der queeren Szene und über den besagten alternativen CSD in Neukölln. Zunächst stellt sie klar, dass es durchaus auch eine große Bewunderung von der LGBTQIA+Szene für Israel gebe . Das könne man beispielsweise daran sehen, dass seit Jahren ein Truck der israelischen Botschaft Teil des offiziellen CSD sei und dieser durchaus auch gefeiert werde. Sie betont aber auch, dass andere Teile der queeren Szene einen ausgeprägten Israel-Hass gebe und es dort zu antisemitischen Artikulationen komme. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs hilft sie mir zu verstehen, warum es innerhalb der queeren Szene zu antisemitischen Äußerungen und Vorfällen kommt. Dabei erklärt sie mir, dass Antisemitismus mehr als bloße Diskriminierung sei. Antisemitismus sei so tief in den Denkstrukturen verwurzelt und oftmals so unterbewusst in den Denkformen vorhanden, dass Menschen es manchmal nicht wahrnehmen, dass sie sich antisemitisch äußern. Außerdem sei es wichtig zu betrachten, dass oftmals keine Reflexion der antisemitischen Geschichte westlicher Gesellschaften und Deutschland stattfinde. So sei es oft der Fall, dass Antisemitismus in Awareness-Konzepten nicht neben anderen Formen der Diskriminierung mitgedacht werde.

Genauso wichtig sei es laut Kim Robin Stoller aber auch zu verstehen, dass anti-israelische Gruppierungen gezielt Veranstaltungen unter dem Deckmantel eines CSDs anmelden, um ihren israelbezogenen Antisemitismus zu verbreiten. Auch komme es vor, dass Alternativen zum offiziellen CSD von diesen Gruppierungen gehijackt werden. Das bedeutet, dass anti-israelische Gruppierungen, teils auch gewaltsam, Veranstaltungen und Demonstrationen kapern und dann dort ihre Propaganda verbreiten und ihre Agenda durchsetzen. Sie nutzen also die queere Szene als Deckmantel, um israelbezogenen Antisemitismus zu verbreiten. Ich spreche auch mit ihr darüber, warum viele Queers vielleicht auch unbewusst israelbezogenen Antisemitismus verbreiten oder antisemitische Haltungen vertreten. Sie erklärt mir, dass viele der Menschen denken, dass sie auf der vermeintlich richtigen Seite stehen würden, wenn sie sich undifferenziert gegen Israel aussprechen. Sie haben dann das Gefühl, dass sie sich für die vermeintlichen Opfer einsetzen und merken in ihrer Rhetorik dann nicht, dass diese antisemitisch ist.

Wir sprechen aber nicht nur über die Vorfälle auf dem Neuköllner alternativen CSD, sondern auch darüber, wie es besser gemacht werden kann. Sie sagt, man könne zwar nicht verhindern, dass eine Veranstaltung zur Verbreitung von Falschinformationen missbraucht werde, aber man könne sich positionieren. Um alternative queere Veranstaltungen auch für jüdische Queers sicher(er) zu machen sei es ihrer Einschätzung nach zunächst einmal wichtig, dass die Organisator*innen sich explizit auch in ihrem Aufruf gegen jeden Antisemitismus aussprechen. Dabei sei es auch unerlässlich nicht einzuknicken, wenn sie daraufhin dafür angefeindet werden. Außerdem sei das Benennen davon, dass sie gegen jeden Antisemitismus vorgehen werden und dies dann auch in der Situation tun, essenziell, sollte es zu einem antisemitischen Vorfall kommen.  Das Stellung beziehen in der Situation könne beispielsweise über eine Durchsage vom Lautsprecherwagen stattfinden. Auch sollte sich im Vorfeld mit jüdischen Gruppen auseinandergesetzt werden, die zur Thematik Antisemitismus arbeiten, und es müsse sich darauf vorbereitet werden, dass die Veranstaltung oder Demonstration eventuell gehijackt wird. Unbedingt abzuklären sei hier der Umgang in Bezug auf Polizei. Nach einem Vorfall sei es wichtig sich klar öffentlich zu positionieren.

Was nun?

Antisemitismus tritt überall in der deutschen Gesellschaft auf, daher ist es auch logisch, dass es innerhalb der queeren Szene zu Antisemitismus kommt. Für queere Personen bedeutet das, dass sie wachsam sein müssen und darauf achten sollten, zu welchen Veranstaltungen und Demonstrationen sie gehen, um nicht potentiell ungewollt auf einer israelfeindlichen Demo zu landen. Es bedeutet auch, dass sich Queers genauso mit internalisierten Antisemitismen auseinandersetzen müssen, um sichere(re) Räume zu schaffen. Es sollte das oberste Ziel sein, dass sich jede queere Person auf dem CSD oder einer Alternativveranstaltung sicher fühlen kann, und jüdische Menschen sind Teil der queeren Community. Es ist wichtig, dass intersektionale Gruppen sowie Organisations- und Awareness-Teams den strukturellen Antisemitismus der Gesellschaft in ihrem Tun mitdenken und sich immer und konsequent gegen jeden Antisemitismus aussprechen. Damit wir alle uns wohlfühlen können und sich alle bei CSDs gesehen und sicher fühlen, ist das unabdingbar.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Eigentlich ist der Artikel das perfekte Beispiel für den deutschen Diskurs. Man redet vom israel bezogenen Antisemitismus und ist gleichzeitig selber die Person die den Staat Israel mit Jüd*Innen gleichsetzt. Das es Leute gibt, die Israel kritisieren oder für Palästina einstehen und damit die Handlungen des Staates und nicht die Religion der Einwohner*Innen dieses Staates kritisieren ist dabei undenkbar.
    Natürlich liegt das auch daran, dass Israel sich selbst als Vertreter von Jüd*Innen weltweit sieht und in der Öffentlichkeit darstellt. Und natürlich gibt es auch Antisemiten die den Staat Israel kritisieren wegen dem mehrheitlichen Glauben der Bevölkerung. Das ist ein Fehler und muss angegriffen werden. Jeder der den Staat Israel mit dem Judentum gleichsetzt bedient sich selbst antisemitischer Argumentationen. Wie kann man sich es rausnehmen allen Leuten einer Weltreligion ein gemeinsames Interesse in Bezug auf einen Staat zu unterstellen. Und was sind dann die zahlreichen Jüd*Innen weltweit sowie Israelis , die sich selbst gegen den Staat Israel und seine Handlungen stellen. Begehen Sie auch israel bezogenen Antisemitismus. Das Ganze ist leider wirklich vorne und hinten widersprüchlich.

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