Die deutsche Erinnerungskultur: eine doppelseitige Medaille

Bildungsangebote, Aufklärung und Nationale Strategien gegen Antisemitismus: trotz den hochgehaltenen Mitteln deutscher Erinnerungskultur wird jüdisches Leben in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft zu wenig beachtet und ist einer konstanten Bedrohung ausgesetzt. Fehlt der deutschen Erinnerungskultur die Nachhaltigkeit?

Holocaust-Mahnmal in Berlin. Foto: Unsplash (Amit Lahav)

Nach dem Nationalsozialismus gab es eine fast ausschließliche Weigerung von Staat und Zivilgesellschaft die Verbrechen, insbesondere den Holocaust, als solche anzuerkennen und aufzuarbeiten. Dies setzte sich bis in die siebziger Jahre fort, bis es in Deutschland allmählich zur öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust kam. Aus dieser Entwicklung heraus begründet sich die deutsche Erinnerungskultur, welche in Staat und Zivilgesellschaft einen hohen identifikatorischen Stellenwert einnimmt. Der Bundesbeauftragte für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus Dr. Felix Klein, sieht in der Erinnerungskultur eine besondere Verantwortung jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. Dazu gehört “lebendiges Erinnern” an die Shoa und ihre Opfer, um somit aktiv gegen Antisemitismus anzukämpfen. Dies wird unter anderem in der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben festgehalten. 

Die andere Seite der Medaille 

Nichtsdestotrotz sind laut dem Jahresbericht 2022 des Bundesverbandes RIAS (Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.) und dessen Meldestellen im letzten Jahr 2.480 antisemitische Vorfälle gemeldet worden. Dazu zählen nicht nur Gewalttaten, sondern auch Beschädigungen, antisemitische Äußerungen und Vandalismus. Die Anzahl der Vorfälle ist im Vergleich zum Vorjahr zwar gesunken, aber deutlich höher als die 1.957 Vorfälle des Jahres 2020.Die Anzahl extremer Gewalt steigt gleichzeitig kontinuierlich. Auffällig an diesen Zahlen ist, dass es einen enormen Anstieg an Vorfällen in Bildungs- und Kultureinrichtungen gab. Das bedeutet: mehr Antisemitismus in beispielsweise Schulen, Hochschulen, Kindergärten oder Museen. Ereignet sich ein besonders tragischer antisemitischer Vorfall, wie beispielsweise das Attentat in Halle, herrscht ein reger öffentlicher Diskurs, wie man Antisemitismus endlich die Stirn bieten könnte und hierfür wird wieder auf die Erinnerungskultur verwiesen. Nach dem Abebben des Diskurses wird jüdisches Leben in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft im Alltag jedoch wieder kaum Beachtung geschenkt. Dass über jüdisches Leben oft nur im Kontext von Gewalttaten gesprochen wird und dabei ausschließlich auf die Erinnerungskultur verwiesen wird, reduziert jüdische Menschen auf ihre Opferrolle und einen abstrakt historischen Gegenstand.

Die Realität, mit der in Deutschland lebende jüdische Menschen konfrontiert sind, zeigt, dass die deutsche Erinnerungskultur anscheinend nicht so effektiv funktioniert, wie sich die Mehrheitsgesellschaft das vorstellt. Phasen mit weniger antisemitischen Vorfällen sollten die Gesellschaft nicht täuschen. Antisemitismus ist ein Phänomen, dass die deutsche Bevölkerung kontinuierlich begleitet. Bisher scheint die bestehende Erinnerungskultur daran wenig geändert zu haben 

“Das alltägliche Da-Sein“ 

Essenziell ist es zu verstehen, dass Erinnerungskultur nicht nur aus einem theoretischen Konstrukt bestehen sollte, auf das nach antisemitischen Taten verwiesen wird. Erinnerungskultur ist auch mehr als das alleinige Gedenken an wichtigen Jahrestagen. Es geht schließlich darum jüdisches Leben zu schützen und präventiv gegen antisemitische Handlungen zu arbeiten. Und zwar jederzeit und in verschiedenen sozialen Kontexten. Uli Marienfeld, langjähriger stellvertretender Schulleiter der ESBZ Berlin (Evangelische Schule Berlin Zentrum), sieht Erinnerungskultur als „gute Mischung aus dem alltäglichen Da-Sein und dem immer wieder gehighlightet werden.“ Es müssen konstant „Impulse und Möglichkeiten“ geschaffen werden, um richtig Erinnerungskultur zu betreiben. Diesbezüglich gehören Schüleraustausche zu israelischen Familien zum Schulprinzip der ESBZ. Es liegt an der Gesellschaft, an jungen und alten Bürger*innen, diesem Hass entgegenzuwirken und diesen so weit wie möglich einzudämmen. Gemeinsam muss endlich aktiv dafür gesorgt werden, dass jüdisches Leben sicher prosperieren kann. Dazu gehört, dass aktuelle Konzept der Erinnerungskultur umzudenken und dafür zu sorgen, dass „Nie wieder“ auch endgültig zum „Nie wieder“ wird. 

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