Arme „Vorstadt“: Frankreichs Ignoranz in bewegten Bildern

Gen Z

Im Juni diesen Jahres wurde während einer Verkehrskontrolle ein Jugendlicher durch einen Polizisten erschossen. Als Reaktion wurden Mülltonnen und Autos angezündet. Immer wieder eskalieren Konfrontationen zwischen den Jugendlichen der französischen Banlieues und der Polizei. Matthieu Kassovitz stellte dies bereits in den 1990er Jahren in seinem Film „La Haine“ dar. Ein weiterhin hoch aktueller Film, der alarmieren sollte.

Infrastruktur in den Banlieues. Vogelperspektive. Foto: unsplash/ Erkan-Kirdar

Ein Mann fällt von einem Dach und während er fällt, denkt er: „Jusqu‘ ici tout va bien, mais l’important n’est pas la chute c’est l’atterissage“ – Gerade hier ist es okay, aber wichtig ist nicht der Sturz, sondern der Aufprall auf dem Boden. Ihm ist bewusst, dass die Katastrophe eintreten wird, sie ist unaufhaltsam, und trotzdem beruft er sich darauf, dass sie in diesem Moment noch nicht eingetreten ist. Gerade ist es okay. Damit beginnt „La Haine“, ein Film von Matthieu Kassovitz aus dem Jahre 1995. Es ist die Geschichte, die Hubert (Hubert Kounde) seinen Freunden Vinz (Vincent Cassel) und Said (Said Taghmaoui) erzählt. Sie beschreibt ihr Leben in den französischen Banlieues. Es ist eine Warnung vor der Zukunft, die bis heute anhält.

Die deutsche Übersetzung für das französische Wort Banlieues ist: der Vorort. Jedoch kreiert dies ein völlig falsches Bild. In Deutschland ist es ein Wort mit einer neutralen Assoziation, eventuell eher positiv. Reichere Familien wohnen meistens in Vororten, um dem Trubel der Stadt zu entkommen. Die französische Banlieue ist alles andere als reich. Es sind Wohnviertel, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Nähe von Industriestandorten aus dem Boden gestampft wurden, um die Wohnungsnot zu bekämpfen.

Die Bewohner*innen mussten feststellen, dass die Gebäude bauliche Mängel hatten und schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden waren. Wer die finanziellen Mittel hatte, bevorzugte andere Viertel. Anschließend zogen vor allem Einwander*innen aus den ehemaligen französischen Kolonien dorthin. Schließlich breitete sich in den 1970er Jahren eine hohe Arbeitslosigkeit aus, aufgrund der Wirtschaftskrise und der Deindustrialisierung. Bis heute ergeben Statistiken des nationalen französischen Statistikinstituts, dass in den Banlieues eine Arbeitslosigkeit von 18 % herrscht. Doppelt so hoch wie im Rest des Landes.

30 Aktionspläne gab es bereits, um diese Umstände zu ändern. Keiner hat funktioniert. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron kündigte 2016 seine Präsidentschaftskandidatur in einem Ausbildungszentrum für Jugendliche in einem Pariser Vorort an. Er wollte ein Zeichen setzen, Hoffnung verbreiten. Bürgermeister*innen und Expert*innen arbeiteten zusammen den Aktionsplan „Bericht Borloo“aus, dieser kam nie zur Ausführung. Stattdessen wurde zu einem altbewährten Mittel gegriffen: mehr Polizei und mehr Lehrer*innen. Nachdem im Juni 2023 ein 17-Jähriger von Polizisten erschossen worden war, brannten wieder Autos.

Fusion von Kunst und Zustandsdarstellung

Matthieu Kassovitz hörte im April 1993 im Radio, dass der junge Franzose Makome M’Bowole in Polizeigewahrsam starb. Er schloss sich umgehend Protesten an, wie er im Jahre 2020 dem „Guardian“ sagte, und begann noch am gleichen Tag mit dem Skript von „La Haine“. Es war der erste Film, der über die Banlieues berichtete und damit internationale Aufmerksamkeit erregte, besonders aber in Frankreich, auch bei den seriösen Medien.

Der Film ist geprägt von Gewalt. Viele Überblenden in die nächste Szene sind verbunden mit einem Akt der Gewalt, beispielsweise Vinz, der gegen einen Boxsack schlägt. Zum Einstieg sehen wir eine Nahaufnahme von Saids Gesicht, dann wechselt das Bild zu einer Totalen von Polizisten, die vor ihrem Revier stehen. Ganz klar, ein Gegenüberstehen, ein Warten darauf, wer zuerst angreift. Einer gegen Viele. Die Polizei repräsentiert den französischen Staat und seine Ablehnung gegen französische Staatsbürger wie Said, Hubert und Vinz. Robert Castel (Soziologe) beschreibt dies in seinem Buch Negative Diskriminierung, Jugendrevolten in den Pariser Banlieues so: „Die meisten Bewohner*innen der Banlieues sind französische Staatsbürger, fühlen sich jedoch nicht so und werden auch nicht so behandelt.“

Alle drei sind keineswegs sympathische Charaktere. Sie erwähnen Frauen meist im sexuellen Kontext. Auch zeigen sie sich nicht solidarisch mit anderen Menschen, wie zum Beispiel einer Bettlerin, die sie um Geld bittet. „Versuchs doch mal mit Arbeit wie wir anderen auch!“, ist Saids Reaktion. Jedoch ist unklar, ob einer der drei überhaupt eine Arbeit hat. Das Trio steht für die Vielen. Die Vielen, die vom Staat ignoriert werden, die nicht zum französischen „Wir“ gehören.

Eine Szene aus dem Film, die von Filmkritiker*innen immer wieder positiv hervorgehoben wird, ist die Kamerafahrt aus dem Fenster eines DJs in den Banlieues. Matthieu Kassovitz ist überzeugt vom Edutainment, eine Wissensvermittlung auf spielerische Art und Weise. Er nutzte hierfür den Hiphop. Der DJ spielt „La Haine“ von Cut Killer, ein Song, der über den Film hinaus sehr bekannt ist. Die Kamera startet hinter ihm und „fliegt“ dann aus dem Fenster hinaus, über das Banlieue hinweg. So kann die zuschauende Person aus der Vogelperspektive wahrnehmen, dass dieses Viertel nur aus Wohnblöcken besteht und es wenig bis gar keine Infrastruktur gibt, die der Freizeitgestaltung oder Erholung dient. Es ist fraglich, wie diese Aufnahmen überhaupt entstanden sind, Drohnen gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Über den ganzen Film hinweg wird stark mit der Kamera gearbeitet. Immer wieder gibt es harte Wechsel von der Vogelperspektive in die Nahaufnahme. Diese Extremität unterstreicht die Gewalt, das Hauptthema des Filmes. Auch betrachten wir die Figuren oft aus einem Weitwinkel, sie wirken so sehr viel kleiner und verloren.

„La haine“s kleiner Bruder

Ein Film, der 2019 in Cannes uraufgeführt wurde und dort den Preis der Jury gewann, orientierte sich stark an „La haine“. Ladj Lys „Die Wütenden“ verarbeitet die Erfahrungen des Regisseurs aus den Banlieues. Besonders die Kameraarbeit erinnert an den Klassiker aus den 1990ern. Immer wieder fliegt die Drohne einer der Figuren über die Banlieue und zeigt so auch aus der Vogelperspektive die infrastrukturellen Missstände.

Der extreme Wechsel zwischen Vogelperspektive und Nahaufnahme wird auch hier genutzt und durch eine wackelige Handkamera ergänzt. Der Film ist eine Spur aggressiver, spiegelt er den aktuellen Ton wider: Es hat sich nichts verändert, wenn, dann ist es noch schlimmer geworden. Quasi ein Sequel. Ebenso wie bei „La haine“ ist die Katastrophe unausweichlich. Auch hier steht die Polizei für den Staat. Jedoch erleben wir die Situation aus ihrer Perspektive. Sie ist chancenlos und muss mit den mittlerweile herrschenden Clans in den Vierteln zusammenarbeiten, um in irgendeiner Art und Weise einen Einfluss zu haben.

Alles in allem tritt die Polizei als Moderator*innen zwischen den verschiedenen Parteien auf und versuchen so die Konflikte zu entschärfen. Die gemeinsame Sprache ist die Gewalt. Die Bewohner*innen reproduzieren die Machtstrukturen, von denen sie unterdrückt werden. Am Ende der Nahrungskette stehen die Kinder und Jugendlichen. Sie haben keine Stimme. Die Konsequenz des nicht Zuhörens der Erwachsenen, der Menschen in Machtposition, zeigt sich am Ende. Das Viertel geht unter in der Wut der Kinder.

Beide Filme sind Zustandsdarstellungen, die einen wachrütteln sollen. Sie zeigen die unausweichliche Katastrophe, die eintritt, wenn einem großen Teil der Bevölkerung nicht zugehört wird. Matthieu Kassovitz zeichnete bereits in den 1990er Jahren eine unheilvolle Prognose für die Banlieues. Es ist fraglich, ob ihr demnächst ein Ohr geschenkt wird, oder ob „La haine“ gegenwärtig bleibt.


Quellen zum Weiterlesen


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