Jahrhundertealter Hass – eine Redaktion zu Antisemitismus im Netz

Antisemitismus nimmt weltweit zu, sei es im Netz oder im echten Leben. Können sich Juden und Jüdinnen in Deutschland noch sicher fühlen? Die Redaktion von politikorange hat sich mit Fragen des Ursprungs von Antisemitismus, der Verbindung zu Verschwörungsideologien und dem jüdischen Alltag auseinandergesetzt und die Ergebnisse für euch auf dem Blog zusammengestellt. 

Gemeinsames Gespräch mit Levi Salomon in der bpb-Zentrale. Foto: Holger Kulick

Was haben Theodor Fontane, Wilhelm Busch und Martin Luther gemeinsam? Sie alle zählen zu bedeutenden Personen der deutschen Literaturgeschichte und sie alle verbreiteten antisemitische Ideologien. Sie alle werden vom kollektiven Gedächtnis geschützt. Um solchen Missständen auf den Grund zu gehen und die digitale Ausbreitung von Antisemitismus zu untersuchen, traf sich die Redaktion „Kommentarspalte Antisemitismus – Hass und Stereotype im Netz“. Seit August stand die politikorangeRedaktion als kleine Kooperationsveranstaltung der 20. Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeo Antonio Stiftung fest und fand Anfang November in Berlin unter Umständen statt, die niemand vorhergesehen hat. Der terroristische Angriff der Hamas am 07.10.2023 löste eine neue Welle der Gewalt und schwerwiegendes Grauen in Israel und Palästina aus. Gleichzeitig verzeichnete man in Deutschland eine neue Welle von antisemitischen Anfeindungen und Anschlägen. Synagogen werden angegriffen und Davidsterne an die Türen jüdischer Bürger*innen geschmiert. Umso wichtiger war es für uns, das Leben jüdischer Menschen in Deutschland zu betrachten und uns mit Formen, Ursprüngen und Widerständen von Antisemitismus zu beschäftigen. 

Am ersten Tag unserer Redaktionsarbeit trafen wir uns in der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zu einem Gespräch mit Sharon Adler und Anja Linnekugel. Sharon Adler ist Journalistin, Fotografin  und Gründerin des Online-Magazins AVIVA-Berlin für Frauen und jüdisches Leben. Anja Linnekugel ist Diplom Kommunikationswirtin (HdK-Berlin) und Referentin in der Redaktion Deutschland Archiv der bpb. Sie hatte nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur (dem höchsten jüdischen Feiertag) 2019 die Idee dem Antisemitismus und den Klischees über Jüdinnen und Juden damit zu begegnen, jüdisches Leben in Deutschland in seiner Vielfalt abzubilden. Da 2019 das Wahlrecht für Frauen das 100. Jubiläum hatte, stellte sich die Referentin die Frage, wie sichtbar eigentlich Jüdinnen in Deutschland im Vergleich zu jüdischen Männern sind. Und ob daraus ein Projekt zu entwickeln sei. Deshalb nahm Linnekugel Kontakt zu Sharon Adler auf, die sie durch deren Projekte kannte. Und zusammen entwickeln beide seit 2020 das Projekt „Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen. Brüche. Perspektiven“. Und setzen es gemeinsam um. Dabei werden nicht nur die Biografien von Jüdinnen nach 1945 in den Fokus gerückt und sichtbar gemacht, sondern es wird zur Einordnung auch Einblick in die Zeit vor der Shoah genommen, weil die Gegenwart ohne die Geschichte nicht verstanden werden kann. So wird die Vielfältigkeit von jüdischen Frauen deutlich, und dass der Start nach der Befreiung Deutschlands von den Nationalsozialisten in den Displaced Persons Camps alles andere als leicht war. Die Interview-Reihe zeichnet das Leben von 51 Frauen nach, darunter Protagonistinnen aus West- und Ostdeutschland, aus dem Gebiet ehemaligen Sowjetunion, den USA, Frankreich und Israel. Und es werden alle Generationen abgebildet. Dazu zählt vor allem das gesellschaftliche Engagement von jungen Jüdinnen und eine neue Generation von Rabbinerinnen in Deutschland. Zugleich vermittelten Anja Linnekugel und Sharon Adler Hintergründiges über die journalistische Arbeit. Adler schärfte uns ein, „immer die Quelle der Quelle der Quelle“ zu recherchieren und stets historische Kontexte herzustellen.

Die Tage der Redaktion waren geprägt von intensiven, emotionalen Gesprächen. Der zweite Tag begann mit einem wunderbaren Austausch mit ehrenamtlichen Mitgliedern des Projekts “Meet a Jew” vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Freiwillige bieten eine Plattform, um Kontakt zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen aufzubauen und einen sicheren Raum für Fragen aller Art zu öffnen. Fragen zur religiösen Praxis, zur politischen Meinung oder zu kulinarischem Geschmack – all das konnte unsere Redaktion loswerden.

Verschwörungsideologien und Antisemitismus

Sozialwissenschaftlichen Input gab es von Dr. Carsten Koschmieder, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut in Berlin, der uns den Zusammenhang zwischen Verschwörungsideologien und Antisemitismus erläuterte. Daraus wurde uns klar, inwiefern Antisemitismus eine besondere Form der Diskriminierung ist. Anhand von Erzählungen wie Paul is Dead beschrieb er der Redaktion die Mentalität von Verschwörungsideologien und zeigte auf, wie antisemitische Aussagen im Netz häufig unter neuen Deckmänteln der “globalen Elite”, “Strippenzieher” oder “Hochfinanz” laufen.  

Daran anknüpfend stellte Levi Salomon in einem Workshop die Geschichte des Antisemitismus vor: angefangen mit dem Gerücht der Christenmörder*innen, über die Vorstellung der jüdischen Menschen als teuflische Kindesmörder*innen, bis hin zur Shoah im Nationalsozialismus und den Kontinuitäten in der heutigen Zeit. Levi Salomon gründete 2008 das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) und beobachtet schon seit Jahren antisemitische und extremistische Entwicklungen in Deutschland. Besonders wichtig ist das Engagement der JFDA auf verschiedensten Demonstrationen in Deutschland, bei denen sie rechtsextremistische oder antisemitische Vorfälle filmen und auf deren Website dokumentieren. 

Zwei von vielen Stolpersteinen in Hamburg. Foto: [Hans] Pixabay.

Alles Leben ist Begegnung

Wie ein gelungener Austausch stattfinden kann, zeigte uns Uli Marienfeld, Autor und stellvertretender Schulleiter der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. In Jahrzehnten pädagogischer Arbeit erfuhr er, wie bedeutsam und lebensverändernd Begegnungen mit Menschen sein können. Mehrmals im Jahr führt er mit seinen Schulklassen Fahrten nach Israel und Palästina durch, redet dort mit Jüdinnen und Juden, arabischen und palästinensischen Vertreter*innen und betont dabei, dass nur durch Begegnung und das Kennenlernen des Anderen Hass verhindert werden kann.  

Nach vier Tagen kann die Redaktion auf intensive und lehrreiche Gespräche zurückblicken, allerdings sind wir angesichts der aktuellen Eskalation des Nahostkonflikts durchaus auch emotional ausgelaugt. Unser Mitgefühl gilt den Zivilist*innen und Opfern des Krieges und Betroffenen weltweit. Als Gesellschaft müssen wir diskriminierenden Entwicklungen jeglicher Art entgegentreten und uns für einen respektvollen und toleranten Umgang einsetzen. 

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