Als ‘Klimaregierung’ traten SPD, Grüne und FDP das Erbe der Großen Koalition an. Auch die Energiewirtschaft gibt sich krisenbewusst. Warum Habecks Politik gut ankommt und wie weit der propagierte Klima-Konsens reicht, analysiert Tobias Alsleben.
„Es ist ein Segen, dass wir dieses Bundeswirtschaftsministerium haben“, ruft Marie-Luise Wolff, Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), am Mittwoch, den 1. Juni, in das vollbesetzte Plenum des diesjährigen BDEW-Kongresses in Berlin. Robert Habeck, der die Geschicke des erwähnten Ministeriums seit nunmehr sechs Monaten lenkt, steht direkt daneben. Erstaunlich positiv, so könnte man resümieren, ist die Resonanz ranghoher Vertreter*innen des Lobbyverbands auf eine Bundesregierung, die als erste in Deutschland das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ins Zentrum ihrer Politik gerückt hat. Erstaunlich daher, weil sie damit das Geschäftsmodell der Konzerne, die über Jahrzehnte ihre Gewinne über fossile Energieträger generierten, in noch kürzerer Zeit als ohnehin geplant auf den Kopf stellt.
Grünes Licht für grüne Pläne: Ein Wegweiser, der endlich steht
Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des BDEW, verwundert das nicht. Sie führt die Begeisterung auf die zuvor herrschende Planungsunsicherheit durch fehlende – oder zu langsame – Entscheidungen der letzten Bundesregierungen zurück. „Endlich entsteht mehr Klarheit“, bestätigt auch Thomas Bünger, Manager der Vattenfall Wärme Berlin AG, und bezeichnet die Ambitionen des Wirtschafts- und Klimaministeriums als einen richtigen, wenn auch reichlich späten Impuls. Dankbar sei man in der Industrie konkret für das Bestreben, zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie zu nutzen, sagt Hans Frontschek als Vertreter der HUSUM Wind, einer führenden Fachmesse für Windenergie in Deutschland. In der Legislatur der letzten Großen Koalition unter Kanzlerin a.D. Merkel habe man sich mit Abwanderung von Firmen ins Ausland und erzwungenen Personalentlassungen konfrontiert gesehen; zwischenzeitlich war die Zahl von bundesweit nur 325 gebauten Windrädern im Jahr 2019 – verglichen mit rund 2300 in 2002 – als Tiefpunkt des Windkraft-Ausbaus seit Inkrafttreten des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes zum Symbol für das Scheitern einer konsequenten Energietransition geworden. Nun aber freut sich Frontschek erneut über eine immer größere Zahl an Ausstellern.
Noch gelb um den Schnabel: Es gilt, sich zu beweisen
Dass mit dem Regierungswechsel an sich noch längst nicht alle Hürden in Richtung Klimaneutralität aus dem Weg geräumt sind, wird im Gespräch mit Kongressteilnehmer*innen ebenso klar. Dafür ist die Regierung zu jung im Amt, erst 175 Tage zur Zeit des Kongresses, und der Bedarf an gesetzlichen Weichenstellungen zu groß. „Es gibt auch Menschen, die gegen Laternen rennen, und wir stellen deswegen nicht alle Laternen in Frage“, sagt Bünger schmunzelnd und verweist damit auf den Zielkonflikt von Klima- und Artenschutz beim Ausbau der Windkraft, der auf dem Kongress immer wieder beispielhaft angeführt wird für eine Rechtslage, die die Energiewende hemmt. Noch größere Sorgen als ein Bundesnaturschutzgesetz, das bisher jedes einzelne Vogelleben schützt, scheint die deutsche Bürokratie zu bereiten:
Wenn es sieben Jahre dauert, bis Sie als Unternehmen wissen, ob Sie eine Anlage bauen dürfen oder nicht, dann haben Sie erst gar keine Lust anzufangen.
– RWE-Geschäftsführer Markus Krebber
Es sei Kläger*innen bis heute möglich, mit durch mehrere Instanzen geführten Gerichtsverfahren Projektumsetzungen über Jahre zu verzögern, sagt Krebber. Letztlich wird trotz aller Euphorie des Neuanfangs Vertrauen nur auf Bewährung gewährt. Die Branche erwartet, dass die geforderte (Um-)Regulierung, etwa im Bereich der Elektromobilität oder der Energiegewinnung durch Wasserstoff, nicht in Überregulierung endet. Um den Weg der Klimaneutralität mitzugehen, bräuchten die Unternehmen Freiraum, so formuliert es BDEW-Geschäftsführerin Andreae in einem „Angebot an die Politik“, und wählt damit dieselben Worte wie Friedrich Merz, Oppositionsführer der CDU im Deutschen Bundestag, in seiner Rede am Folgetag.
Alarmstufe Rot: Wenn Politik und Wirtschaft gemeinsam auf Abwegen bleiben
Für Carla Reemtsma, Sprecherin von Fridays for Future Deutschland, ist die Reaktion der deutschen Energiewirtschaft auf den Wechsel der politischen Führung in Berlin zweitrangig. Fest steht für sie, in Klimafragen würden sich bisher weder die neue Bundesregierung noch die Energiekonzerne mit Ruhm bekleckern. Im Gegenteil: Während selbst Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck weltweit – im Senegal oder in Katar – neue Partnerschaften für fossile Energien eingehen, blockierten insbesondere die großen Konzerne wie RWE und LEAG die ernsthafte Energiewende, indem sie beispielsweise Druck auf die Politik ausübten, die Laufzeiten ihrer fossilen Kraftwerke zu verlängern. Was Reemtsma anspricht, ist die Sorge, dass Klimaschutz auch im Jahr 2022 vor allem eine Marketingstrategie bleibt. Die eigentliche Tiefe der Krise anzuerkennen würde hingegen bedeuten, sie in allen Dimensionen der Lebensführung mitzudenken und vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen auch Fragen reduzierten Konsums zu adressieren. Fragen, die auf dem BDEW-Kongress, der sich aufgrund von CO2-Ausgleichszahlungen als klimaneutral bezeichnet, tendenziell zurückfallen – etwa hinter Diskussionen um Ziele wie die Zulassung 14,5 Millionen neuer (Elektro-)Autos bis 2030.
Ein Klima-Konsens auf wackligem Fundament
Was wirklich dran ist an der proklamierten Synergie zwischen Regierungspolitik und Energiewirtschaft, kann nicht abschließend geklärt werden. Forderungen nach Verfahrensbeschleunigung und gesetzgeberischer Ausgestaltung von Strategien, die zum Beispiel in Bezug auf Wasserstoff noch fehlt, irritieren wenig. Auffälliger ist, dass wohl auch die Ansicht über grundlegendste Ambitionen im Einzelnen divergieren. So schwingt in Antworten auf die Frage, für wie realistisch man den Zeitplan der Bundesregierung halte, mit, dass kleine wie große Energieversorger die Klimaneutralität bis 2045 mehr als Orientierung wahrnehmen, weniger als Deadline. Ein anwesender Konzernvertreter betont obendrein, dass zur Realisierung der Energiewende noch finanzielle Anreize fehlten und wünscht sich auf Nachfrage etwa staatliche Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Dass das Wirtschaftsministerium all dies gutheißt, ist zweifelhaft: Der Koalitionsvertrag sieht in Anlehnung an das Pariser Klimaschutzabkommen die Klimaneutralität bis spätestens 2045 vor, Konzerne wie Vattenfall und RWE erhielten bereits von der letzten Bundesregierung umstritten hohe Entschädigungszahlungen für den Atom- und Kohleausstieg. Darüber hinaus antwortet Habecks Pressesprecher Stephan Gabriel Haufe auf die Frage nach Interessenskonflikten mit den Energiekonzernen, dass man als Ministerium bei den beteiligten Lobbyverbänden „umso mehr aneckt, je mehr man etwas verändern möchte“.
Letztlich, vermutet Reemtsma, könne man davon ausgehen, dass die Begeisterung der Energielobby ungeachtet jeglicher inhaltlichen Diskussion nicht zuletzt auf Habecks Talent beruht, seine Politik „unglaublich gut nach außen zu verkaufen“. Und tatsächlich: Wenn man den langanhaltenden Applaus der Kongressbesucher*innen hört, als Habeck seine Rede an jenem Mittwoch beendet, und in ihre belustigt-beeindruckten Gesichter blickt, liegt dieser Gedanke gar nicht so fern.