Bildungspolitik: Exkludiert von der Inklusion

Für inklusive Bildung erreichte der Berliner Senat wenig. Wie politische Entscheidungen die Inklusion von Schüler*innen mit kognitiven oder physischen Einschränkungen blockieren – ein Kommentar.

Foto: Clay Banks/ unsplash

Zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode formulierte der Haushaltsplan des Berliner Senats das Ziel, 36 Schulen zu Schwerpunktschulen bis zum Schuljahr 2020/21 umzustrukturieren oder auszubauen. Laut Berliner Schulgesetz sollen diese Schulen, die besonderen personellen, sächlichen und räumlichen Rahmenbedingungen im Sinne geeigneter Angebote für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereitstellen. 2021 zählt das Land Berlin lediglich 20 solcher Bildungsstätten, die ihre Statusänderung bewilligt bekommen haben. Dies reiht sich in eine Vielzahl von politische Handlungsentscheidungen ein, die die aufrichtige Inklusion von Schüler*innen mit kognitiven oder physischen Einschränkungen blockieren.

In vielen Einzugsgebieten besteht ein  akuter Mangel an Schwerpunktschulen, die den individuellen Bedarfen der Kinder gerecht werden. Denn die ungleiche Verteilung der zertifizierten Schulen über das Stadtgebiet hinweg verhindert faire Zugangschancen auf inklusive Bildung. Zusätzlich bedeutet das Bestehen einer Schule im Einzugsgebiet nicht automatisch die Wahlfreiheit für Kinder mit kognitiven oder physischen Einschränkungen. Aufgrund der individuellen Anforderungen, die mit dem eigenen Handicap einhergehen, minimiert sich, je nach Förderschwerpunkt, pädagogischem Konzept und Ressourcen der Schulen, die Auswahl erheblich. Unter Umständen müssen Schüler*innen demnach einen kräfteraubenden, zeitaufwendigen und längeren Schulweg in Kauf nehmen.

Schule muss anders, und das eher heute als morgen

Zivile Akteur*innen prangern den Mangel an Schwerpunktschulen und den zurückhaltenden politischen Einsatz für inklusive Bildungsangebote an. Zu ihnen zählt unter anderem die Kampagne „Schule muss anders“, die seit April diesen Jahres existiert und sich unteranderem für den Ausbau aller Berliner Schulen zu inklusiven Schwerpunktschulen ausspricht.

Anne Lautsch setzt sich nicht nur im Alltag für die Interessen und Perspektiven ihres  Sohnes mit Trisomie-21 ein, sondern engagiert sich auch bei „Schule muss anders“ für die schulische und professionelle Zukunft ihres Kindes. Die aktuelle Verwaltung und ihre Bestreben beschreibt Lautsch als ein Mangelsystem. Es benötige „ein Schulsystem, das sich um das gemeinsame Lernerlebnis von Kindern mit und ohne Behinderung bemüht und damit den Weg für eine Gesellschaft ebnet, für die nicht die Einschränkungen, sondern die Potentiale einer Person entscheidend sind“, sagt sie. Doch der Senat setzte in der vergangene Legislaturperiode eher auf Exklusion als Gradmesser für Inklusion.

Mit einer Inklusionsquote von 5,8 Prozent für das Schuljahr 2018/19 lag das Land Berlin zwar über dem deutschen Durchschnitt von 3,2 Prozent, doch ohne die Betrachtung der Exklusionsquote ist die quantitative Erfassung wenig aussagekräftig. Die Exklusionsquote gibt nämlich den Anteil von Schüler*innen an, die an Förderschulen beschult werden und somit in „normalen“ Klassenräumen keinen Platz finden. In Berlin blieb dieser Prozentwert laut der Bertelsmann-Stiftung in den Schuljahren 2018/19 und 2019/20 unverändert bei 2,4 Prozent und wird sogar für das Schuljahr 2030/31 mit minimal gesunkenen 2,3 Prozent prognostiziert. Wenn bis dahin die Separierung von Schüler*innen mit Förderbedarf fast unverändert bleibt, bleiben die Inklusionsbemühungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen sind nötig

Um die Inklusionsfortschritte der Berliner Schulen voranzutreiben, fordert das Berliner Bündnis für schulische Inklusion, das Mitinitiator und Teil der Kampagne „Schule muss anders“ ist, den Umbau und die Umstrukturierung von reinen Förderschulen hin zu inklusiven Schulen, die Schüler*innen mit und ohne Behinderung unterrichten. Doch die scheidende Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) schlug in der vergangenen Legislaturperiode einen anderen Weg ein: Sie versprach für das Schuljahr 2020/21 den Ausbau von 800 zusätzlichen Schulplätzen an Förderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung. Für die Inklusionsfähigkeit der Berliner Schulbildung bedeutet das einen zusätzlicher Rückschritt, denn Scheeres Vorstoß wird zum Einen dem Bedarf an Schulplätzen nicht gerecht und verstärkt zusätzlich die Trennung der Bildungsangebote für Schüler*innen mit und ohne Behinderung.

Für die Kampagne „Schule muss anders“ reichen einfache Wortbekundungen und Absichtserklärungen der Politik daher nicht mehr aus: Die Bildungsperspektiven der Berliner Schüler*innen müssen inklusiver, chancengleicher und zukunftsweisender gestaltet werden. Momentan, so Anne Lautsch, fehle es aber an „Kreativität in der politischen Umsetzung und es dominiere eine Mutlosigkeit für grundlegende Veränderungen“.

Nichtsdestotrotz ist es Initiativen wie „Schule muss anders“ im laufenden Wahlkampf und unabhängig von potenziellen Endergebnissen gelungen, die Belange von Berliner Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zu einem bestimmenden Thema zu machen. Doch entscheidend für die Chancen und Perspektiven von Kindern mit Behinderungen, sowie für die Entlastung der unterstützenden Familien, wird die Besetzung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie sein. Es bleibt zu hoffen, dass sich innerhalb der neuen Landesregierung ein aufrichtigeres Engagement für die Inklusion von Menschen mit Behinderung finden wird.  Denn nur wenn es dem Bildungssystem gelingt, diejenigen zu bedenken, die vielleicht integriert, aber noch lange nicht inkludiert sind, können wir die Inklusion auch gesamtgesellschaftlich voranbringen.

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