„Wie kann Jüdischsein so eine Provokation sein?”

Antisemitische Vorfälle und Einstellungen sind in Deutschland präsent und das nicht nur an den scheinbar äußeren Rändern der Gesellschaft. Juden*Jüdinnen werden in ihrem Alltag mit verschiedenen Formen von Antisemitismus konfrontiert. Sophie Schmitt hat mit einer jungen Berlinerin über ihre persönlichen Erfahrungen gesprochen.

Foto: Cottonbro / Pexels

Stella Haas* (Name von der Redaktion geändert), ist 23 Jahre alt und kommt aus Berlin. Sie erzählt, dass sie seit ihrer Jugend Jüdinnen*Judenfeindlichkeit erlebt

Wann bist du das erste Mal mit Antisemitismus in Berührung gekommen?

Das erste Mal habe ich Antisemitismus im Gymnasium in Steglitz zu spüren bekommen. Anfangs wusste keiner, dass ich Jüdin bin. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich als solche zu erkennen gebe. Ihre Angst, dass man mich deswegen verbal oder physisch angreifen könnte, war einfach zu groß. Als ich dann 14,15 Jahre alt war, haben meine Eltern mir diese Entscheidung selbst überlassen. Ich sei ja alt genug. Ich habe dann angefangen, die Davidsternkette zu tragen. Und das war dann auch der Moment, in dem alles anfing.

Kannst du eine konkrete Situation benennen?

In der Pause wurden oftmals stereotype Sprüche gerufen, die sich Jüdinnen*Juden oft anhören müssen. Mir wurde mehrfach von Mitschüler*innen unterstellt, meine Familie sei reich oder gar einflussreich, da das ja angeblich alle Jüdinnen*Juden wären. Das trifft auf mich aber nicht zu: Ich komme aus einer russisch-stämmigen Arbeiter*innenfamilie. Meine Familie ist weder wohlhabend noch einflussreich. Was alles mit ein paar nervigen stereotypen Sprüchen anfing, verwandelte sich bald in Beleidigungen: Zum Beispiel wurden mir juden*jüdinnenfeindliche Beleidigungen im Bezug auf Vergasung und den Holocaust hinterhergerufen. Was genau gesagt wurde, weiß ich nicht mehr. Das habe ich verdrängt.

Wie hast du dich in solchen Situationen gefühlt?

Ich empfand es als geschmacklos, dass meine Mitschüler*innen meine Identität plötzlich negativ aufgrund meiner Religion definiert haben. Meine Religion spiegelt ja nicht meinen Charakter wider. Trotz der Tatsache, dass mich die Art und Weise wie mit mir umgegangen worden ist gestört hat, habe ich nie den Mund aufgemacht. Aus Überforderung mit der Lage habe ich einfach mitgelacht. Damals habe ich mich noch nicht getraut, meine Meinung zu sagen und eigene Grenzen zu ziehen.

Hast du dich bezüglich des Antisemitismus in deiner Klasse damals an einen Erwachsenen gewandt?

Ich hatte einmal mit meiner Ethiklehrerin darüber gesprochen, wie wütend mich diese antisemitischen Witze und Äußerungen machen. Sie hat mir angeboten, mit der Klasse darüber zu sprechen, ohne meinen Namen zu nennen, damit ich nicht direkt in die Schusslinie meiner Mitschüler*innen gerate. Ich habe das abgelehnt. Selbst wenn meine Lehrerin die Klasse nur indirekt auf deren antisemitische Aussagen angesprochen hätte, hätte trotzdem jede*r erahnt, dass ich mich beschwert hatte. Sie hat sich dann hauptsächlich meine Gedanken zu dem Thema angehört und mir Tipps gegeben.

Welche Erfahrungen hast du durch deine Schulzeit gesammelt?

Rückblickend waren die Bekanntschaften, die ich mit Jüdinnen*Judenfeindlichkeit in der Schule gemacht hatte, der Auslöser dafür, dass ich mich heute mit jüdischer Kultur und Antisemitismus auseinandersetze. Das negative Bild des Judentums, welches meine Mitschüler*innen hatten, löste jahrelang Unverständnis und Zorn aus. Erst als ich Mitglied bei Meet a Jew wurde, habe ich angefangen, mich mit dem Judentum als Religion und Kultur auseinanderzusetzen. Gleichzeitig habe ich versucht, den Beweggrund von Nichtjuden*jüdinnen für Antisemitismus zu ergründen.

Was denkst du ist die Ursache dafür, dass es im Jahr 2021 überhaupt noch Juden*Jüdinnenfeindlichkeit gibt?

Fehlende Aufklärung spielt eine entscheidende Rolle: An unserer Schule wurde im Geschichtsunterricht Antisemitismus als Randthema besprochen. Wir sind mehr auf den Ablauf des zweiten Weltkriegs eingegangen als auf einzelne Vorfälle in der Zeit der Juden*Jüdinnenverfolgung. Auch das Elternhaus kann eine Ursache für das Entstehen von Antisemitismus sein. Denn ich bin nicht der Auffassung, dass meine Mitschüler*innen aus Boshaftigkeit gehandelt haben: Ich denke, dass sie zu Hause nie die Bedeutung von Antisemitismus erklärt bekommen haben.

Was gilt für dich als juden*jüdinnenfeindlich?

Darunter fallen nicht nur Witze über den Holocaust, auch die Stereotypisierung in Bezug auf das Aussehen oder den sozialen Status von Juden*Jüdinnen, ist ganz klar antisemitisch. Ich glaube auch, dass Filme und Bücher darauf einen Einfluss haben und dass das auch einer der Gründe ist, weshalb Nichtjuden*jüdinnen dieses Bild von wohlhabenden, frommen Juden mit Kippa haben.

Wo werden Juden*Jüdinnen deiner Meinung nach noch falsch dargestellt?

Berichterstattungen in den Medien sind auch oft einseitig. Beispielsweise wenn es um die Politik Israels geht.[…] Juden*Jüdinnen werden selten nach ihrer Sichtweise gefragt und oft als „böse“ oder „gewaltbereit“ dargestellt. Aber das ist nicht immer der Fall.

Was denkst du löst solch eine Berichterstattung bei Nichtjuden*jüdinnen aus?

Vielen Nichtjuden*jüdinnen ist die Einseitigkeit bei Berichterstattung nicht bewusst. Das führt dazu, dass diese einen generalisierten Juden*jüdinnenhass entwickeln. Deswegen werden Juden*Jüdinnen aus allen möglichen Ländern ständig diskriminiert. Am schlimmsten sind die Pro-Palestine-Demos: In Berlin war es sogar so gefährlich, dass man als Jüdin*Jude in bestimmte Stadtteile nicht mehr rein durfte. Da frage ich mich: Wie kann Jüdischsein so eine Provokation sein?

Wie bist du während dieser Phase mit der Situation umgegangen?

Während der Pro-Palestine-Demonstrationen habe ich versucht, mich nicht als Jüdin erkennbar zu geben. Die Angst, in irgendeiner Form attackiert zu werden, war einfach zu groß. Aber ich hatte nicht nur während der Demos Angst vor Gewalt. Ich bin auch heute immer noch in Alarmbereitschaft.

Was muss die Gesellschaft deiner Meinung nach tun, um Antisemitismus zukünftig zu verhindern?

Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig über Antisemitismus aufgeklärt werden: Bildungseinrichtungen sind der perfekte Ort dafür, da sich hier vielfältige Möglichkeiten bieten, das Thema in den Unterricht zu integrieren. Es muss nicht nur im Geschichtsunterricht darüber gesprochen werden. Man kann aktuellen Juden*Jüdinnenhass auch in den Ethikunterricht oder in den Politikunterricht integrieren. Wichtig ist, dass Jüdischsein in Büchern, Spielfilmen, Dokus, aber auch in der Schule nicht stereotypisiert wird. Jüdisches Leben muss vielfältiger dargestellt werden und nicht so ultra-orthodox, damit wir weniger über unsere Religion definiert werden, sondern über unsere Persönlichkeit. Antisemitismus kann nur durch Aufklärung und das Aufzeigen von Vielfalt im Judentum bekämpft werden!

Danke für das offene Gespräch, Stella!
Sophie Schmitt

lebt in der Nähe von Saarbrücken. Neben dem Schreiben von journalistischen Texten, verreist sie gerne und unternimmt viel mit Freund*innen. Im September beginnt sie mit einem FSJ.

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