Wahrheit und Verschwörungsglaube – was dahintersteckt und wieso Menschen dafür empfänglich sind. politikorange-Autor Tobias Pilz über Wahrheit und das Problem des Ideals der Allwissenheit.
„Nazi-Diktatur!“, „Lügenpresse“, „Denken statt folgen!“. Es sind Aussagen wie diese, die auf der ersten großen Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen Anfang August in Berlin gefallen sind. Dabei spielten auch immer die Begriffe „Wahrheit“ und „Wissen“ eine Rolle. Besonders in Zeiten der Corona-Pandemie sollte man deswegen die Begriffe Wahrheit und Wissen etwas genauer anschauen und klären – denn teilweise wird Meinung statt Wissen zum „Wahren“ auserkoren und einige Menschen halten Verschwörungsmythen für wahr. Doch was ist Wahrheit überhaupt und was unterscheidet Wissenschaft von der eigenen Meinung?
Der Philosoph Nikolaos Psarros erklärt im Interview mit politikorange, Wahrheit sei kein genau definierbarer Begriff. Deswegen könne er nur eine allgemeine Definition geben. „Wahrheit als die Übereinstimmung unserer aller Bilder der Welt.“ Damit sei der grundlegende Konsens aller die Wahrheit. Wenn die Mehrheit der Wissenschaftler*innen sich einig ist, dass es das Coronavirus gibt, dann gilt das als wahr. Weiter ist Psarros der Ansicht, dass Mensch-Sein und die Suche nach Wahrheit zusammengehören. Eine weitere Perspektive bringt der Sozialwissenschaftler Alex Demirović ein: „Wahrheit ist ein kollektiver Prozess“. Es gehe darum gemeinsame Überzeugungen zu entwickeln und gegebenenfalls anzupassen. Wahrheit hänge demnach von allen Menschen gemeinsam ab und sei nicht fest bestimmt.
Wo Wissen und Wahrheit beginnen
Seit der Antike versuchen Philosoph*innen nicht nur die Wahrheit zu definieren, sondern sich auch dem Begriff „Wissen“ anzunähern. Platon definierte Wissen als „wahre, gerechtfertigte Meinung“. Psarros erklärt hier: „In der Antike unterschied man zwischen lokalem (Doxa-Wissen) und wissenschaftlichem Wissen (Episteme-Wissen). Das lokale Wissen ist auf Bedingungen eingeschränkt – wie zum Beispiel den Ort.“ Es sei also das Wissen, dass wir Menschen als Einzelpersonen haben. „Wissenschaftliches Wissen ist Wissen befreit von lokalen Bedingungen und muss immer das Eigentliche beschreiben“, so Psarros. Eine Allgemeingültigkeit müsse herrschen. Um Wissen von lokalen Bedingungen zu befreien, gibt es wissenschaftliche Methoden. Psarros erklärt dazu, dass jede Wissenschaft eine Darstellungsweise an sich sei. Diese produziere Thesen und Aussagen nach wissenschaftsspezifischen Methoden und Regeln. Die Bedingung ist, dass die Aussagen der Wissenschaft von jedem mithilfe dieser Methoden erlernbar und überprüfbar seien.
Dagegen entsteht Meinung, wenn Menschen aus ihrem lokalen Wissen, wissenschaftliches Wissen beanspruchen. Wahr muss diese dann jedoch nicht sein. Psarros nennt als Beispiel die gelbe Post in Deutschland. „Das ist lokales Wissen und wahr. Aber nur, weil in Deutschland die Post gelb ist, heißt es noch lange nicht, dass die Post in der ganzen Welt gelb ist.“ Als Beispiel aus dem Alltag mit Corona nennt Psarros folgendes: „Wenn es kühl ist, kann man leicht einen grippalen Infekt einfangen.“ Das sei lokales Wissen. Wissenschaftliches Wissen wäre aber: „Die Erkrankung erfolgt, weil viele Viren bei niedrigeren Temperaturen länger infektiös bleiben.“
Der Mensch und das Rechthaben
Trotz wissenschaftlicher Fakten beharren Verschwörungserzähler*innen auf ihrer Meinung und meinen, Recht zu haben. Warum Menschen bei Diskussionen im Recht stehen wollen und ungern ihr Unrecht zugeben und was Menschen für Verschwörungserzählungen empfänglich macht, hat der Psychologe Tobias Holtz erklärt: „Wenn man Recht bekommt, erfährt sowohl das eigene Denkvermögen als auch der individuelle Lebensentwurf Bestätigung. Diese Art der Genugtuung stärkt das eigene Selbstwertgefühl, was jeder Mensch anstrebt. Wenn man nicht Recht hat, ist das ein Angriff auf das Selbstwertgefühl, weswegen viele Menschen auf Kritik negativ reagieren und beleidigt sind.“ Unser Gehirn strebe nach einem sogenannten Kohärenzgefühl. „Dies kann als Gefühl beschrieben werden, dass alles zusammenpasst und harmoniert. Das heißt: Wenn ich irgendetwas sehe oder erfahre, dann versuche ich es mir zu erklären.“
Weiter erklärt Holtz, dass Verschwörungsideolog*innen das Gefühl besitzen, etwas erkannt zu haben, indem sie das „gleichzeitige Auftreten zwei ungewöhnlicher Ereignisse in Zusammenhang bringen“. Psycholog*innen sprechen hier von Illusorischer Korrelation, die wiederum das Kohärenzgefühl des Gehirns stimuliere. Ein neues gefährliches Virus wird entdeckt, während das 5G Netz ausgebaut wird. Daraus resultiert dann die falsche Schlussfolgerung: „5G verursacht Corona!“ Holtz und der Sozialwissenschaftler Demirović sind sich einig: Verschwörungserzähler*innen denken, sie hätten etwas Wichtiges erkannt. Diese Erkenntnis teilen sie und verbreiten das Verschwörungsdenken durch die Nutzung neuer, digitaler Plattformen.
Eine weitere wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Wahrheit und Rechthaben spielen auch die sogenannten Verfügbarkeitsprinzipien. Dabei geht es darum, wie Menschen Informationen besorgen und aufnehmen. Holtz sagt dazu: „Wird etwas oft gelesen, gehen wir davon aus, dass dies häufig vorkommt. Wenn in der Presse häufig über Kriege berichtet wird, könnte man meinen, wir leben in einer kriegerischen Welt.“ Dieser Umstand gepaart mit Algorithmen im Internet lasse Menschen unter anderem Verschwörungsmythen für wahr halten. „Algorithmen sind darauf ausgelegt, die Informationen zu zeigen, die ich ohnehin als wahr annehme.“ Mit Blick auf den Messenger-Dienst Telegram scheint es dem Psychologen zum Beispiel danach, dass „so oft Meldungen geteilt werden, bis die Menschen denken, dass es stimmt.“ Tobias Holtz spricht von einem Kreislauf: „Man hat eine Meinung und informiert sich mit meinungsbestätigenden Quellen, die wiederum die eigene Meinung stärken.“
Weitere Faktoren, die Menschen für Verschwörungserzählungen empfänglich machen, sind die Gruppenzugehörigkeit, sozialpsychologische Phänomene und eine Verschwörungsmentalität – also das Mindset, das etwas nicht stimmen kann und man Dinge sucht, die die eigene Weltanschauung beweisen. Ganz nach dem Sprichwort: „Wer sucht, der findet“. Wichtig hierbei ist die Kritikresistenz der Verschwörungsideolog*innen. Der Sozialwissenschaftler Demirović sagt dazu: „Der Glaube, Recht zu haben, einen tiefen Einblick in Zusammenhänge zu haben, der dann gar nicht mehr wirklich erklärt werden kann, lässt sowas wie ein verbittertes Festhalten an dieser These oder dieser Einsicht zu.“ Weiter meint er, dass Verschwörungsideolog*innen ganz schnell eine Antwort zu haben glauben und wie ein Kurzschluss verschiedene Dinge zusammenführen.
Das Ideal der Allwissenheit
Letztendlich könne man nicht alles wissen, so Psarros. Das Problem seien die Personen, die trotzdem versuchen, für alles einfache Erklärungen zu finden, indem sie Mythen Glauben schenken. „Man sollte sich nicht schämen, dass man nicht alles weiß oder wissen kann. Höchstens muss man sich schämen, dass man es nicht zugibt. Man klickt nicht dreimal auf irgendwelche Internetseiten, sondern Wahrheitsfindung ist in der Regel ein sehr komplizierter Prozess.“
Für Demirović ist Wahrheit eine Vertrauenssache. So müsse man zum Beispiel der Tagesschau vertrauen, dass diese im Prozess des Erstellens der Beiträge durch viel Recherche und Überprüfen von Quellen, die Wahrheit erzählt. Für die journalistische Arbeit gibt es ethische Standards, die durch den Deutschen Presserat und die Landesmedienanstalten überprüft werden. So steht in der ersten Ziffer des Pressekodex: „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“