Lasst sie wählen!

Fast zwölf Prozent der in Deutschland lebenden Erwachsenen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie keinen deutschen Pass haben. Das ist undemokratisch und nutzt den Rechtspopulisten, findet Jana Borchers.

Wahlrecht ist in Deutschland nach wie vor ein Privileg.

Migration und Asylrecht haben die öffentliche Debatte vor und während des Wahlkamps bestimmt. Das Thema hat von Leitkulturdebatten bis zu Nazivorwürfen verschiedenste Emotionen freigesetzt und eine Rhetorik aus Hass und Angst gefördert, der nicht zuletzt die AfD ihren Erfolg bei der Bundestagswahl zu verdanken hat. Diejenigen aber, die am stärksten von dem Thema betroffen sind, die unter den Gesetzesverschärfungen zu leiden haben und unter der Verrohung der Sprache, durften dabei nicht mitentscheiden.

Wer keinen deutschen Pass hat, ist in Deutschland auf fast allen Ebenen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Lediglich EU-Ausländerinnen und Ausländer dürfen an Kommunalwahlen teilnehmen. Damit sind die Regelungen deutlich strenger als in vielen anderen Ländern – in zwölf EU-Staaten dürfen alle Ausländerinnen und Ausländer an Kommunalwahlen teilnehmen, in Chile, Uruguay und Neuseeland sogar an nationalen Wahlen, wenn sie seit einer bestimmten Zeit dort leben. Nicht nur das – auch die Hürden zur Einbürgerung oder doppelter Staatsbürgerschaft sind in Deutschland deutlich höher.

An der Lebenswirklichkeit vorbei

Historisch gesehen war es vielleicht einmal sinnvoll, das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft zu binden. Mit der heutigen Lebenswirklichkeit in vielen westlichen Ländern lässt es sich aber kaum noch vereinbaren. Deutschland ist nun bereits seit vielen Jahren eine Einwanderungsgesellschaft, jede fünfte der hier lebenden Personen hat einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen sind hier geboren und aufgewachsen, sie arbeiten in Deutschland oder studieren. Sie sind von deutscher Politik nicht minder betroffen als der Rest der Bevölkerung. Dennoch haben laut Statistischem Bundesamt rund zwölf Prozent der hier lebenden Menschen nicht das Recht, am ureigensten Prinzip der Demokratie, den Wahlen, teilzunehmen.

Deutsche, die im Ausland leben, müssen zur Teilnahme an deutschen Wahlen nachweisen, dass sie sich seit ihrem 14. Lebensjahr mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland aufgehalten haben. Das ist eine verschwindend geringe Zeit. Dazu gehört auch Renter vor, der vor 40 Jahren nach Spanien ausgewandert ist und nur ab und zu ein paar Wochen in seinem Ferienhaus auf Sylt verbringt. Eine Studentin, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die aber keinen deutschen Pass hat, weil ihre Eltern vor 30 Jahren aus dem Libanon geflohen sind und nur mit Duldung hier leben, gehört nicht dazu. Wer ist wohl stärker von deutscher Politik betroffen? Dass nur erstere Person wahlberechtigt ist, zeigt die Absurdität der aktuellen Gesetzeslage.

Migrantinnen und Migranten wählen keine Nazis

Die fehlende Stimme der Migrantinnen und Migranten schlägt sich in den Ergebnissen aller Wahlen nieder. Egal ob nach Landtagswahlen, bei denen die AfD in die Parlamente einzog, oder nach der Bundestagswahl: Immer wieder hört man die These, viele Menschen hätten die AfD gar nicht gewählt, weil sie sich tatsächlich mit deren Inhalten identifizieren, sondern nur weil sie von den etablierten Parteien enttäuscht seien. Ihnen ist das möglich, weil sie unter den Folgen des Aufstiegs einer rechtsextremen Partei am wenigsten zu leiden haben. Menschen mit Migrationsgeschichte hingegen wählen keine Partei, die gegen Menschen mit Migrationsgeschichte hetzt. Nicht aus Protest. Nicht, um den übrigen Parteien eins auszuwischen.

Bei der Veranstaltung „Hier wählen Alle“, organisiert vom „Verein Neue Nachbarschaft Moabit“ in Berlin, durften am 24. September alle Menschen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, symbolisch ihre Stimme abgeben. Die meisten Stimmen erhielt dabei Linke und Grüne mit zusammen über 50 Prozent, für die AfD stimmte niemand. Nur einmal angenommen, dieses Ergebnis wäre repräsentativ für die zwölf Prozent in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass – mit einem reformierten Wahlrecht wäre das Ergebnis der Bundestagswahl heute ein anderes. Und eine Partei wie die SPD würde sich vielleicht auch zweimal überlegen, ob sie im rechtspopulistischen Jargon vor einer „Wiederholung der Zustände von 2015“ warnt, wenn sie um die Stimmen all dieser Menschen kämpfen müsste.

Armutszeugnis für Deutschlands Demokratie

Zwölf Prozent sind keine Randgruppe. Das sind zehn Millionen Menschen. Zehn Millionen Menschen, denen ein essentielles demokratisches Recht verwehrt wird. Und es ist ein Armutszeugnis für unsere Demokratie, dass niemand damit ein Problem zu haben scheint.

Das Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten auszuweiten ist derzeit weder Thema der öffentlichen Debatte noch gibt es aktuell eine Partei, die eine Reform des Wahlrechts für Menschen ohne deutschen Pass fordert. Die demokratischen Parteien im Bundestag sollten sich dringend überlegen, ob sie weiterhin auf die Rhetorik der AfD einschwenken und ihre gesamte Politik an den Bedürfnissen der „besorgten Bürger“ ausrichten wollen – oder ob sie sich endlich für das Mitbestimmungsrecht derjenigen einsetzen, die die Folgen des Rechtsrucks am schmerzhaftesten zu spüren bekommen.


Dieser Artikel wurde im Rahmen der „Yalla Media Akademie“ verfasst. Hier lernen Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten, den Redaktionsalltag kennen und Artikel zu schreiben. Auf Arabisch erscheint dieser Artikel bei Eed be Eed.

Jana Borchers

Jana, 20, schreibt abgesehen von politikorange meist für eine Online-Lokalzeitung. Neben postdramatischem Theater, Feminismus und Spekulatiuscreme interessiert sie sich vor allem für Literatur und die Frage, warum es Elefanten nicht auch in Hundewelpen-Größe gibt.

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