„Wahlen sind ein willkommenes Einfallstor“

Besonders vor Wahlen können Falschinformationen großen Einfluss haben. Dabei kommen die Desinformationen nicht nur aus Russland. Clara Hoheisel hat mit Expert*innen gesprochen.

Auch wenn sich Desinformation nicht auf Wahlen beschränkt, bilden diese ein willkommenes Einfallstor. Foto: Jugendpresse Deutschland / Saad Yaghi

Im direkten Vergleich der Mitgliedsländer der EU ist Deutschland mit Abstand am meisten von russischen Desinformationskampagnen betroffen. Zu dieser Auswertung kommt eine Untersuchung des Europäischen Auswärtigen Dienstes der EU: Seit 2015 werden in der Datenbank „EU vs. Disinfo“ gezielte Desinformationskampagnen des Kremls gesammelt. Demnach sind in Bezug auf Deutschland 700 Fälle bekannt, für Frankreich 300 und für Italien 170 Angriffe. Doch nicht nur der Kreml hat ein Interesse daran, in den Bundestagswahlkampf einzugreifen, wie Patrick Stegemann und Khesrau Behroz in ihrem Podcast Noise erklären. In Kooperation mit dem Recherchezentrum Correctiv gehen die Investigativjournalist*innen in der Folge Vienna Calling einem österreichischen Netzwerk von mitunter erst wenige Wochen vor der Bundestagswahl gegründeten Online-Medien nach. Diese eint mangelnde Transparenz: Wie die Investigativjournalist*innen im Rahmen ihrer Recherche entdeckten, zeichnen sich die österreichischen Medien mit Namen wie Wochenblick oder Report 24 durch einen falschen Firmennamen aus. Bei einem Großteil handelt es sich um Briefkastenfirmen, die ihren Sitz in der oberösterreichischen Stadt Linz haben.

Die Publikationen des österreichischen Netzwerks sind vorrangig in der rechten Szene angesiedelt. Veröffentlicht werden neben impfkritischen Artikeln auch hetzerische Inhalte gegen deutsche Politiker*innen – vorrangig ist Annalena Baerbock das Ziel. Die rechtspopulistischen Beiträge erhalten nicht nur zahlreiche Klicks in Österreich, sie werden oft ungeprüft von deutschen Medien übernommen. Tatsächlich kamen laut einer Recherche der NGO Avaaz bereits 56 Prozent aller Deutschen mit einer Fehlinformation in Kontakt, die in direktem Zusammenhang zur Spitzenkandidatin der Grünen steht. Bei einem Vergleich der veröffentlichten Falschinformationen über die drei Spitzenkandidat*innen ermittelte die NGO ein ebenso erschreckendes Ergebnis: Während 71 Prozent der Desinformation auf Annalena Baerbock zielen, beziehen sich auf Armin Laschet 29 Prozent. Einzig Olaf Scholz blieb von solchen Desinformations-Narrativen verschont.

Die Journalisten Stegemann und Behroz stellen in ihrem Podcast auch die Frage nach der Finanzierung. Sogar ein russischer Einfluss wird nicht ausgeschlossen. „Wir wissen zumindest, dass die Akteure, die da unterwegs sind, Russland-Connections haben“, meint Stegemann. Diese Vermutung gründet darauf, dass viele der österreichischen Autor*innen der rechtspopulistischen FPÖ nahestehen, die bekanntermaßen Verbindungen nach Russland pflegt. Auch ist auffällig, dass die Berichterstattung innerhalb der Publikationen vorrangig im Sinne der russischen Regierungslinie erfolgt.

Stegemann und Kolleg*innen stellten sich die Frage: Welches Interesse haben die österreichischen Medien daran, den deutschen Bundeswahlkampf zu beeinflussen? Ein Ziel sei der direkte Einfluss auf die europäische Politik: „Wer in der EU etwas ändern möchte, muss die Stimmung in Deutschland ändern. Und das ist den Rechten in Österreich klar“, mutmaßt der Journalist. Außerdem könnten sich politische Entscheidungen, die in Deutschland getroffen werden, unmittelbar auf die österreichische Politik auswirken. Und auch Geld spielt eine Rolle: Bei einer größeren Leserschaft steigt der Gewinn der Zeitschriften.

Doch Österreich ist neben Russland nicht das einzige Land, das mit gezielten Desinformationskampagnen in den deutschen Bundestagswahlkampf eingreift. Welche Mittel werden zur gezielten Desinformation eingesetzt? Und wer sind die Akteure, die hinter den Kampagnen stehen?

„Dazu zählt prinzipiell alles das, was polarisiert“

Desinformation erfolgt im Gegensatz zu Fehlinformation immer mit schädigender Absicht. Damit beeinflusst oder verfälscht Desinformation die öffentliche Meinung und kann das gesellschaftliche und politische Klima schwerwiegend beeinträchtigen. Ein Vertreter des Auswärtigen Amtes erklärt im Gespräch mit politikorange: „Staatlich gesteuerte oder mindestens geduldete Desinformation zielt in den meisten Fällen darauf ab, bereits bestehende gesellschaftliche Gräben bei polarisierenden Themen zu vertiefen.“ Auch wenn der Blick nicht auf Wahlen per se verengt werden sollte, betont er die Bedeutung von Desinformation in diesem Kontext: „Wahlen sind ein willkommenes Einfallstor für Akteure im Bereich Desinformation, weil im Wahlkampf ohnehin bestehende gesellschaftliche Polarisierung verstärkt wird.“

Die Mittel der eingesetzten Desinformation sind so verschieden wie vielfältig: Während Cyberangriffe, wie beispielsweise die Macron Leaks, nicht per se als Desinformation bezeichnet werden, stehen sie oft in unmittelbarem Zusammenhang. Außerdem zählen falsche oder verzerrte Darstellungen als Desinformation. „Wenn sich ein Akteur zum Beispiel einen bestimmten Kandidaten aus einer Partei ‚herausgreift‘ und immer wieder auf die gleichen Aspekte oder Äußerungen eingeht, kann das auch mit Desinformationsabsicht geschehen“, erklärt der Vertreter des Auswärtigen Amtes. „Wissentlich werden alle anderen Aspekte ausgeblendet, zum Beispiel, dass diese Person ihre Aussage schon relativiert und eingeordnet hat; oder dass es sich um ein altes Statement handelt.“

Gezielte Desinformationskampagnen können Wahlen auf unterschiedliche Art beeinflussen: „Zum einen kann Desinformation auf den Wahlprozess selbst abzielen, ein Klassiker dafür ist die Briefwahl“, so der Mitarbeiter des Außenministeriums. Dieses Phänomen konnte zum Beispiel in den USA im Rahmen der letzten Präsidentschaftswahl beobachtet werden: Riesige Kampagnen schürten den Eindruck, die Briefwahl sei manipuliert worden. „Auf der anderen Seite haben wir, und das ist aus unserer Sicht das gravierendere Problem, klassische Themen der Desinformation. Dazu zählt prinzipiell alles das, was polarisiert, was die Menschen auf die Straße bringt und wo Emotionen dahinterstecken“. Das seien beispielsweise der Klimawandel, Migration, in Frankreich die Gelbwesten, in den USA Black Lives Matter und 2021 könnten es in Deutschland die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sein. Auch wenn die Ziele der ausländischen Akteur*innen verschieden ausfallen, stehe nicht primär der Einfluss auf den konkreten Wahlausgang im Fokus.

„Der Großteil der Desinformationen kamen aus dem Inland.“

Die Akteur*innen, die hinter den Kampagnen stehen, sind nur schwer auszumachen. So ist auch die Bedrohung der Bundestagswahl durch ausländische Desinformationskampagnen nach Aussage des Mitarbeiters im Außenministeriums unmöglich statistisch nachvollziehbar: „Die Gründe, aus denen Personen ihre Einstellung gegenüber Parteien und gesellschaftlich kritischen Themen verändern, kann von vielen Faktoren gleichzeitig abhängen.“ So sei es beispielsweise bis heute unglaublich schwer, mit Sicherheit zu sagen, ob bei der US-Wahl 2016 auch nur eine Stimme durch eine ausländische Einflussnahme verändert wurde. Auch wenn der Vertreter in diesem Feld noch viel Potenzial für zukünftige Forschung sieht, nimmt er an: „Nach meiner Einschätzung ist die Gefahr real.“

Desinformation kommt aber keineswegs nur aus dem Ausland. Julian Jaursch ist Projektleiter bei der Stiftung Neue Verantwortung (SNV). Der Think Tank untersucht auf gemeinnütziger, parteiunabhängiger Basis aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen innovativer Technologien. In einer Studie zur Bundestagswahl 2017 ermittelte Jaursch, dass der Einfluss von ausländischen Falschinformationskampagnen eher gering ausfiel. Obwohl der Wahlkampfs 2021 noch nicht abschließend ausgewertet ist, vermutet er, dass sich diese Diagnose auch auf die aktuelle Bundestagswahl übertragen lässt: „Natürlich ist die Gefahr da, dass auch Geheimdienste, staatliche Medien oder Einzelpersonen aus dem Ausland versuchen, auf Deutschland Einfluss zu nehmen, aber der Großteil der Desinformationen kamen aus dem Inland. Das sind einfach unsere Mitbürger*innen, die aus verschiedene Gründen Desinformation streuen.“

„Es geht uns um eine resiliente Gesellschaft“

Bis heute existiert weltweit keine einheitliche Strategie im Kampf gegen Desinformation. Die Kampagnen werden oft nicht von Anbieter*innen wie Facebook selbst aufgedeckt, sondern von zivilgesellschaftlichen oder universitären Organisationen, wie beispielsweise Graphika, EUDisinfoLab oder Avaaz. In Deutschland sind die Zuständigkeiten im Bund über verschiedenste Ressorts und Institutionen verteilt, eine zentrale Stelle für die Bekämpfung von Desinformation gibt es nicht. Julian Jaursch steht dieser Situation kritisch gegenüber: „Meiner Meinung nach ist es suboptimal, dass der Umgang mit Desinformation in Deutschland so unkoordiniert gestaltet ist.“ Auch die Formulierung übergeordneter Ziele und Strategien hält der Experte für eine Möglichkeit. „Mein Kernanliegen ist, dass wir uns als Gesellschaft nicht darauf verlassen, dass die Plattformen das irgendwie selber regeln, in Form freiwilliger Maßnahmen. Ich sehe es als Gefahr, wenn es kein koordiniertes, demokratisch legitimiertes, unabhängiges, gemeinsames Vorgehen gibt.“ Die Verantwortung, mit Desinformationen umzugehen, an die Internetnutzenden abzugeben, schätzt der Experte als problematisch ein. „Gleichzeitig wäre es sinnvoll, digitale Medienkompetenz und qualitativ hochwertigen Journalismus zu fördern“, führt er aus. Außerdem wünscht sich der Experte einfacheren Zugang zu den Daten der sozialen Netzwerke für Forschende, um Desinformationen leichter aufdecken zu können.

Das Auswärtige Amt setzt bis dato vor allem auf eine bessere Vernetzung zwischen den Ministerien und Gremien sowie in den internationalen Bündnissen, erklärt dessen Vertreter. Ein weiterer Ansatzpunkt des Außenministeriums stellt der Versuch dar, Widerstandsfähigkeit in der Bevölkerung zu stärken: „Es geht uns um eine resiliente Gesellschaft, die widerstandsfähig im Kern ist gegen ausländische Einflussnahme. Eine Gesellschaft, die gut einschätzen kann, welche Medien seriös sind, wie man soziale Medien konsumiert und bei der ein gewisses Grundvertrauen in den Staat herrscht“. Als dritte Strategie stärkt das Auswärtige Amt die eigenen Analysefähigkeiten. „Wir haben ein spezifisches Interesse daran, Dinge schnell zu erkennen und reaktionsfähig zu sein“, heißt es auf Nachfrage.

„Wir glauben nicht, dass diese Herausforderungen verschwinden werden“

In Zukunft rechnet das Auswärtige Amt mit weiteren Desinformationskampagnen. „Wir glauben nicht, dass dieses Problem oder diese Herausforderungen verschwinden werden.“ Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, gibt es weltweit in einigen Ländern erste Versuche, Desinformation als Straftatbestand zu etablieren und dann auch dementsprechend zu verfolgen. Der Mitarbeiter des Außenministeriums spricht sich allerdings entschieden dagegen aus: „Wir sind überzeugt davon, dass das nicht der richtige Weg ist, unter anderem da das oft als Vorwand benutzt wird, um kritische Stimmen zu unterdrücken.“ Stattdessen seien langfristig eine resiliente Gesellschaft und eine aktive, faktenbasierte, strategische Kommunikation die besten Mittel, um gegen Desinformation vorzugehen.

Auch der Investigativjournalist Patrick Stegemann wünscht sich eines für die Zukunft: „Desinformationen greift die Grundfesten unserer Gesellschaft an. Deshalb hoffe ich, dass das Thema mehr ins gesellschaftliche Gespräch integriert wird.“

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