Keine Wahl: Viele Berliner*innen durften nicht mitentscheiden

Sie gestalten und repräsentieren Berlin, doch wählen dürfen sie nicht: Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Lisa Beusch hat zwei von ihnen am Wahltag getroffen.

Isabel Pearce und Enad Altaweel sind beide nicht wahlberechtigt.
Isabel Pearce ist eine der Berliner*innen, die nicht wählen dürfen. Und auch Enad Altaweel hatte kein Stimmrecht bei den Wahlen vergangenen Sonntag. Foto: Jugendpresse Deutschland / Victor Martini; Grafik: Saad Yaghi

Wahlsonntag, 14:30 Uhr: Isabel Pearce sitzt im Café Chef‘s, zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Seit zwei Jahren ist die junge Brasilianerin in Berlin. Sie erzählt, wie lange es gebraucht hat, bis sie endlich die Wohnung bekommen hat: „Ich habe mindestens 200 Anfragen geschrieben und vielleicht drei Antworten bekommen.“ Wohnungsmangel – das Thema beschäftigt viele Berliner*innen.

Auch sonst gleicht ihr Alltag dem vieler junger Menschen in der Hauptstadt: studieren, feiern, Freund*innen treffen. Sie fühle sich in Deutschland angekommen. Doch im Gegensatz zu ihren deutschen Freund*innen, wird dieser Sonntag ohne einen Gang zum Wahllokal vergehen.

Außenbezirke geben den Ton an

Jede*r Dritte, mehr als 1,3 Millionen Menschen, haben in Berlin keine Wahlbenachrichtigung bekommen, obwohl sie hier leben. Rechnet man die unter 18-Jährigen aus dieser Statistik heraus, bleiben in einigen Wahlbezirken trotzdem über 50 Prozent der Kiezbewohner*innen ohne politische Stimme. Grund: der fehlende deutsche Pass. Dabei gibt es riesige Unterschiede innerhalb des Stadtgebiets. Vor allem in den Ballungsräumen des S-Bahn-Rings verschärft sich das Problem der fehlenden Repräsentation wie beispielsweise im Wahlbezirk 708 in Mitte, in dem ganze 56,3 Prozent aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht wählen dürfen.

Im Gegensatz dazu stehen Randbezirke wie Köpenicks Wahlbezirk 516 mit einem Ausländer*innen-Anteil von nur 1,7 Prozent. In Isabels Wahlbezirk in Mitte liegt der Anteil der Stimmenlosen bei 22,5 Prozent. „Es ist etwas traurig für mich. Ich wurde so oft angesprochen von Parteien, doch wenn ich sage, dass ich nicht wählen darf, wissen sie gar nicht, wie sie mit mir umgehen sollen“, beschreibt sie die Begegnungen im Straßenwahlkampf der letzten Tage. 

In Brasilien war sie politisch aktiv, engagierte sich, um den Wahlsieg von Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu verhindern. „Es war schön, auf der Straße zu sein und mit Leuten zu reden. Fast jede Woche haben wir demonstriert.“ 

Hier in Deutschland studiert die 21-Jährige Politik an der FU Berlin. Sie kennt das deutsche Politiksystem weitaus besser als der*die Durchschnitts-Deutsche, doch mittlerweile habe sie kein Interesse mehr, mit den Wahlkämpfer*innen ins Gespräch zu kommen. „Ich interessiere mich aktuell eher für internationale Politik. Es ist nicht gerade motivierend, sich mit allen Details auseinanderzusetzen, wenn man selbst nicht wählen darf.“ Viele ihrer internationalen Kommiliton*innen würden diese Einstellung teilen. „Diejenigen, die sich in meinem Umfeld politisch engagieren, haben meist auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die anderen sind informiert, sie wissen was passiert, aber sie gehen nicht unbedingt auf die Straße.“

Dabei gibt es Themen, bei denen Menschen mit Einwanderungsgeschichte mehr Unterstützung und darum auch Repräsentanz in der Politik gebrauchen könnten: Abbau von Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Reduzierung der komplizierten und langwierigen Bürokratie und vor allem der Kampf gegen rassistische Gewalt und Anfeindungen.

Giffey will die Kleingärtner*innen

„Ganz sicher Berlin“ heißt es zum Beispiel bei der SPD Berlin. Doch der Wahlslogan ist kein Sicherheitsversprechen an Isabel und ihre vielen internationalen Kommiliton*innen. Lieber konzentrierten sich die Sozialdemokrat*innen auf Clan-Kriminalität und organisiertes Verbrechen. Franziska Giffey versprach in ihrem auffallend konservativen Wahlkampf eine stärkere Polizei und Justiz, ein Anti-Terror-Zentrum und den Sicherheitspakt für Berlin, der vor allem eines heißt: noch mehr Polizei. Mit gewohnt akkurater Hochsteckfrisur nahm sie sich einen Berliner Stereotypen vor, dessen Gunst eben auch Prozente bringt: Den deutschen Kleingärtner. Das Rote Gartenhaus, in der die Spitzenkandidatin sich mit Bürger*innen beim Umtopfen und Unkraut jäten austauschte, wurde zum Sinnbild dieser Strategie.

Wahlsonntag, 21:00 Uhr: Enad Altaweel kommt mit beschwingtem Schritt aus dem Cassiopeia in Friedrichshain. Noch beflügelt ihn die Hoffnung auf grüne Führung im Roten Rathaus. 

Bis in die frühen Morgenstunden des Wahltags hat er versucht, das heimkehrende Partyvolk von einem Abstecher zur Wahlurne zu überzeugen. Erst wählen, dann Rausch ausschlafen. Er selbst darf keines der sechs Kreuze für die Wahlen auf Bundes-, Landes- und Bezirksebene oder den Volksentscheid machen. Vor fünf Jahren floh er aus Syrien. Die deutsche Staatsbürgerschaft kann er frühestens nach acht Jahren beantragen. Doch der Wahlberliner will sich nicht damit abfinden, dass er in der Stadt keine politische Stimme hat. Er hat mit der Parteiarbeit einen Weg gefunden, sich Gehör zu verschaffen. Seit 2020 ist der 25-Jährige im Geschäftsführenden Ausschuss bei den Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg. „Innerparteiliche Demokratie ist wichtig. Wenn man zum Beispiel einen Antrag verabschiedet und die Programmatik in der Partei ändert und gerechter macht, dann wirkt sich das aus.“ So könne er Einfluss auf die Politik nehmen. Trotzdem setzt er sich für eine Änderung des Wahlrechts ein. Alle Menschen, deren Lebensmittelpunkt in Deutschland ist, sollten wählen dürfen, meint Enad. „Nur dann wird Politik für alle gemacht.“

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