Heimat ist, wo der Tee am besten schmeckt

Das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes umfasst mittlerweile 95 verschiedene Kulturformen. Welche Rolle spielen diese Traditionen in Bezug auf Heimat? politikorange-Redakteurin Lisa Grefer geht dieser Frage genauer nach.

Heimat – ein schwierig zu definierender Begriff. Jeder Mensch hat seine ganz eigene Interpretation von diesem Ausdruck. Für die meisten ist es ein äußerst persönliches Gefühl von Zugehörigkeit, verbunden mit individuellen Erinnerungen und Erfahrungen. Aber auch Traditionen können das Bild jedes Einzelnen von seiner Heimat prägen. Das können die Sternsinger sein, die am Dreikönigstag von Haus zu Haus ziehen, das Skat-Spiel, zu dem man sich am Abend mit Freunden trifft, oder einfach eine leckere Scheibe „deutsches“ Brot nach Omas Rezept.

Eins haben diese drei Dinge jedoch gemeinsam: Sie stehen im bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Nach Definition der UNESCO-Konvention umfasst dies „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume (…), die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.“ Welche Bedeutung der Schutz solcher Traditionen für Europa hat wurde auch im Rahmen des digitalen Bundeskongresses Heimat in Europa des Bundes Heimat und Umwelt diskutiert. Im Panel „Europa vor Ort“ erklärt Dr. Frank Thiel, Vorstandsmitglied der Deutschen Flößerei-Vereinigung, immaterielles Kulturgut habe „auch immer was mit Wissen zu tun“. Gebe man dieses nicht weiter, gehe es infolgedessen mit der Zeit verloren. Josef Oberhofer, Verbandsgeschäftsführer Heimatpflegeverband Südtirol, zufolge sei es sogar die „Pflicht eines jeden Menschen (…) immaterielles Kulturerbe an die nächste Generation weiterzugeben“. Er begründet dies damit, dass unsere Zukunft auf den Erfahrungen der Vergangenheit aufbaue.

Spaltung und Ausgrenzung

Fachbereichsleiterin der Deutschen UNESCO-Kommission: Christine Merkel. Foto: privat

Christine M. Merkel ist Fachbereichsleiterin bei der Deutschen UNESCO-Kommission. Sie glaubt: „Beheimatung ist etwas Aktives und durchaus Handfestes, nicht nur ein Gefühl. Es ist zudem nichts exklusives, viele Menschen leben heute mit Verbindungen zu mehreren Heimatländern und/oder -Regionen. Traditionen können dazu positiv beitragen, wenn sie mit einer weltoffenen Einstellung gepflegt werden, zu Wandel bereit sind und Neuankömmlinge willkommen heißen.“ Andernfalls kann Brauchtum auch eine spaltende Rolle einnehmen und ganze Bevölkerungsgruppen ausschließen. „Viele Bräuche sind daran gebunden, wer wann an welchem Ort geboren wurde, mit welchem Geschlecht oder auch welcher Glaubensrichtung“, meint Merkel. Ein Bayer werde wenig von der Helgoländer Dampfbörte verstehen, ein Mädchen fände im Sächsischen Knabenchor keinen Platz und Atheisten glauben nicht, dass Sternsingen einen Segen in ihr Haus bringen. Laut Merkel sei es hier „besonders spannend, durch aktive Auseinandersetzung gemeinsam im 21. Jahrhundert anzukommen.“

In Ostfriesland bringt Tee die Menschen an einen Tisch

Aber es gibt auch die Fälle, in denen Traditionen Menschen zusammenführen. „Das Teetrinken stellt in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis sowie im Berufsleben einen Moment der gemeinsamen Auszeit und Ruhe dar, die zum gemütlichen Plaudern, dem ´Klönen´, genutzt wird“, sagt Dr. Matthias Stenger, Leiter eines Teemuseums in der niedersächsischen Stadt Norden. Für ihn ist die Ostfriesische Teekultur immer auch „ein Stück Heimat“. Er initiierte die Aufnahme dieser Praxis in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes. „Meine aus Bayern stammende Schwiegermutter hatte im Deutschlandfunk gehört, dass Deutschland der Konvention beigetreten wäre und erzählte mir davon“, erinnert sich Stenger. Er sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Tradition und seinem Verständnis von Heimat: „Die Praxis dieser Momente des Zusammenkommens und des Austausches von Kindesbeinen an wirkt identitätsstiftend und wird daher sowohl auf Reisen als auch bei Fortzug weiter praktiziert, um ein Stück vertraute Heimat mitzunehmen bzw. bei sich zu haben.“

Auch Brauchtum geht mit der Zeit

Letztendlich habe „die erste Phase der Globalisierung das Bewusstsein geschärft, dass man sich um die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen dauerhaft aktiv kümmern muss“, so Merkel. Kulturpolitik sei „nötig, um sowohl zeitgenössische Produktion als auch die Vielfalt an Traditionen zu schützen und zu fördern.“ Und das könne bereits im kleinen Kreis anfangen: „Eine schöne Möglichkeit ist auch, bei Familienfesten oder Jubiläen eine Tradition oder eine Kulturpraxis, die einem selbst besonders am Herzen liegt, in den Mittelpunkt zu stellen und Freunde und Bekannte mit der eigenen Begeisterung anzustecken”, sagt Merkel. Die Expertin für für Immaterielles Kulturerbe findet abschließend: „Individuelles Interesse und aktives Erkunden sind zentral, um den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in jeder Generation immer wieder neu zu wecken und zukunftstauglich zu erfinden´“.

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