Das andere ’68 – Demonstrationen und Antisemitismus in Polen

Das Jahr 1968 wurde auf dem Jüdischen Kulturfestival in Krakau mit verschiedenen Formen beleuchtet, um dessen Aufarbeitung gerecht zu werden, da es für die jüdische Gemeinschaft Polens ein schwarzes Kapitel der Geschichte darstellt. Ein Blick ins Nachbarland.

Unter dem Motto ‚Zion‘ lud das Jüdisches Kulturfestival nach Krakau ein.

In Deutschland ist 1968 untrennbar mit der gleichnamigen Bewegung verbunden. In Krakau hat aber auch dasselbe Jahr eine Bedeutung, stach es doch in der Programmbeschreibung des Jüdischen Kultur Festivals oft ins Auge. Zudem schienen die Ereignisse dieses Jahres offenkundig bekannt zu sein.

Dem Jahr ’68 lief der Sechstage-Krieg Israels im Jahr zuvor voraus. Die arabischen Staaten wurden dabei durch die Sowjetunion unterstützt. Aus der Sicht der damaligen UdSSR handelte es sich um „imperialistische Bestrebungen“.
Auf der anderen Seite hegten die Kirche als auch die Mehrheit der polnischen Bevölkerung eine Sympathie zu Israel. Władysław Gomułka, Parteichef der Vereinten Polnischen Arbeiterpartei, warnte vor einer fünften Kolonne innerhalb Polens und forderte all die Personen, die sich Israel mehr als Polen verbunden fühlten, auf, Polen zu verlassen. Dies startete eine anti-zionistische Kampagne, bei der es nicht bleiben sollte.

Die nationalistisch-populistische Partei instrumentalisierten diese Kampagne und attackierte die Zionisten bei jeder Gelegenheit, und erzeugte somit die antisemitische Stimmung im Lande. Die ersten Juden und Jüdinnen wurden aus Militär, Partei und der akademischen Welt entlassen.

Licht in der Dunkelheit. Foto: Jonas Gebauer.

Totenfeier der Meinungsfreiheit

Anfang ’68 wurde das unter Studierenden beliebte Theaterstück Dziady, die Totenfeier, von Adam Mickiewicz aufgeführt. Es enthielt dabei antisowjetische Elemente. Nach der kurzfristigen Einstellung des Stücks führte dies zu Protesten der Studierenden und Rufen nach „Unabhängigkeit ohne Zensur“ – solange, bis sie durch die Schlagstöcke der Miliz aufgelöst wurden.
Anschließend wurde eine Petition der Studierendenschaft gegen das Verbot gestartet, die ebenfalls durch den Kreis der Literaten unterstützt wurde. Im März dehnte sich die Welle der Empörung aus und manifestierte sich in Protesten in mehreren Städten. Begleitet wurden diese stets durch Festnahmen.

Die westdeutschen Studierendenbewegungen dieser Zeit zeichneten sich durch Demokratisierung und Emanzipation, aber vor allem Entnazifizierung, aus. In Polen hingegen gab es ein Verlangen nach Meinungs- und Pressefreiheit, ebenfalls wurden die Ideale des Sozialismus eingefordert. Die Massendemonstrationen bestanden überwiegend aus Schülerinnen und Schülern oder jungen, arbeitenden Menschen.

„Zionisten nach Zion“

Diese komplexe politische Situation führte zu einer anti-studentischen, anti-intellektuellen, anti-“zionistischen“ Stimmung in Polen. Eine mediale Schmierkampagne mündete in Demonstrationen, bei denen die Massen skandierten: „Studenten nehmt das Studium auf, Schriftsteller das Schreiben“ oder „Zionisten nach Zion“.

Am 19. März betonte Gomułka die jüdische Herkunft einiger Studierenden, versuchte sich aber gleichzeitig gegen den Vorwurf des Antisemitismus abzugrenzen. Gleichzeitig befeuerte er dennoch die anti-intellektuelle Stimmung des Landes mit weiteren Beschuldigungen gegenüber der Intelligenzija.

Im April äußerte sich Ministerpräsident Cyrankiewicz, dass eine Loyalität gegenüber dem sozialistischen Polen und dem imperialistischen Israel gleichzeitig nicht möglich sei und schlussfolgerte, dass niemand als Konsequenz – in Form von Emigration – daraus, „auf irgendwelche Hindernisse stoßen würde“. Daher erstellte das Innenministerium eine Kartei aller polnischen Bürger jüdischer Herkunft. Dies gipfelte für sie im Verlust der Anstellung im öffentlichen Dienst sowie in Schulen und Universitäten. Ihnen wurden ebenfalls Ausreisedokumente ausgestellt, sodass sie das Land verlassen konnten.

Es ist nicht zu vergessen, dass es sich um Juden und Jüdinnen handelte, die entweder den Holocaust überlebt hatten oder Kinder von Holocaust-Überlebenden waren. Die Presse berichtete über die Ereignisse derart hetzerisch, dass viele erneute Pogrome befürchteten. Dies führte zu der Ausreise von etwa 13 000 Juden und Jüdinnen.  Trotz der zionistischen Anschuldigen, reisten diese überwiegend nicht nach Israel. Dadurch schrumpfte die jüdische Bevölkerung nach vorherigen Ausreisewellen auf ein neues Tief in der polnischen Nachkriegsgeschichte.

„Ich wollte kein Jude sein“

Da die Aufarbeitung dieses historischen Ereignisses erst seit den letzten zwanzig Jahren stattfindet, war es interessant zu sehen, mit welchen unterschiedlichen Mitteln es auf dem Festival behandelt wurde. Hinter den schieren Zahlen treten oft die persönlichen Schicksale zurück. Der ausgestrahlte Film „Perecowicze“ beleuchtete die jüdische Yitzhak Leyb Peretz Schule in Łódź. Die kindliche Perspektive eröffnet einen ganz anderen, greifbaren, Blick auf diese Ereignisse, da sie in Zeiten des erstarkenden Antisemitismus für viele eine „Zuflucht“ und „Paradies“ darstellte. Die porträtierten Schicksale zeigen die vielen Facetten der Geschichte auf: manche berichten davon, keinen Antisemitismus erlebt zu haben, wieder andere wurden mit Steinen beworfen – bis hin zu der Aussage: „Ich wollte kein Jude sein, aber ich wusste nicht, was es war“.

In Folge der Emigration musste diese Schule aufgrund eines Mangels an Schülerinnen und Schülern schließen. Viele der Ehemaligen berichteten, sich gar nicht als Jude oder Jüdin identifiziert zu haben, und dennoch wurden ihnen Reisepässe ausgestellt, in denen ihnen die polnische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde. Ebenfalls werden oft die Nachwirkungen von Emigration oft vergessen. Diese „68-er Generation“ musste zum Teil ihre Eltern in Polen zurücklassen und konnte teilweise zehn bis zwanzig Jahre nicht das Land besuchen, sodass Einzelne nicht einmal in der Lage waren, am Begräbnis ihrer Eltern teilzunehmen. Insbesondere die Elterngeneration tat sich schwer im neuen Land Fuß zu fassen und konnte sich teils gar nicht an die neue Heimat gewöhnen. Eine Jüdin erinnerte sich in dem Film – ihr Vater sei „verliebt in Polen“ gestorben.

Blick nach vorne

Das Festival trug dieses Jahr den Namen „Zion“, der Name eines Berges in Israel, an den Menschen jüdischen Glaubens laut der Theologie hoffen zurückzukehren. Auf der anderen Seite kehren viele der Juden und Jüdinnen, die im Jahre 1968 das Land verließen, regelmäßig in ihr Heimatland zurück. Die Ehemaligen der Łódźer Schule erlebten trotz der Schrecken eine enge und familiäre Verbundenheit untereinander und treffen sich alle zwei bis drei Jahre in Aschkelon, Israel. Dies ist ein Sinnbild für das ganze Festival der Jüdischen Kultur in Krakau: Sich der Vergangenheit bewusst, aber in die Zukunft schauend.

Anderseits lohnt der Blick zurück, denn das Jahr ’68 steht auch dafür, wie vordergründiger Antizionismus Antisemitismus Tür und Tor öffnet und welche Konsequenzen dies haben kann – erinnert ganz an heute.

 

 

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