Das größte Problem unserer Gesellschaft ist der Rechtspopulismus und die Gefährdung unserer Demokratie

… sagt Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, in unserem Interview auf dem Fachtag #religionsundkultursensibel in Berlin. Wie hängen eigentlich Religion, Engagement und die Arbeit des großen Wohlfahrtsverbands zusammen und welche Rolle spielt das Christentum noch in der Gesellschaft?

Foto von Frau Loheide.
Zu Besuch bei Frau Loheide. Foto: Jugendpresse Deutschland / Anna Rakhmanko

Frau Loheide, wie privilegiert waren Sie in Ihrer Jugend?

Ich bin sicherlich sehr behütet aufgewachsen, auch sehr gefördert worden als Kind, hatte immer die Sicherheit, mit Geschwistern und Eltern aufzuwachsen und habe alle Bildungschancen gehabt, die es gab.

Wären die Angebote der Diakonie im Bereich der Jugendbildung, -hilfe und -förderung, insofern es sie denn gab, entsprechend Möglichkeiten für Sie gewesen, die Sie wahrgenommen hätten?

Ja, auf jeden Fall. Wenn es sowas gegeben hätte, dann wäre sicherlich die Möglichkeit gewesen, dass ich davon auch profitiere. Ich habe auch von der kirchlichen Jugendarbeit profitiert, war lange Jahre Pfadfinderin. Das prägt, auch wenn man Funktionen und Verantwortung übernimmt. Wenn Sie das als ein Angebot sehen, die Kirche und Religion bieten, konnte ich da schon partizipieren.

Wagen wir einen Blick nach Bayern: Ministerpräsident Söder erlässt ein Gesetz, wonach im Eingangsbereich öffentlicher Gebäude ein Kreuz hängen muss. Verfälscht die politische Instrumentalisierung christlicher Werte das Bild von Religion in der Gesellschaft?

Das sehen wir schon mit Sorge, nicht nur das Kreuz, das Söder jetzt in den Eingang öffentlicher Gebäude hängen will. Auch die AfD sieht sich im Zweifel als Verteidigerin des christlichen Abendlandes und will unsere Religion und Kultur schützen. Das tun sie, meines Erachtens, völlig eigennützig und entfremdet. Insofern wird das politisch instrumentalisiert und nützt den wirklich gläubigen Menschen nicht.

Ist unsere Gesellschaft überhaupt ohne christliche Werte zu denken?

Für mich persönlich nicht. Erstmal ist das ganz individuell: Ich kann mir keine Gesellschaft vorstellen, in der nicht der Glaube und die Religion eine Rolle spielen. Im Übrigen natürlich nicht nur die evangelische oder katholische, sondern überhaupt, zu glauben und damit eine andere Verankerung in seinem eigenen Leben zu finden.
Wir nehmen natürlich deutlich Tendenzen wahr, dass das nicht mehr durchgängig für alle Menschen gilt, wie vielleicht vor Jahren noch. Gerade hier in Berlin ist der Anteil derjenigen, die überhaupt nicht glauben am Höchsten.
Was man immer wieder feststellt, ist, dass dann durchaus im Leben von Menschen Situationen entstehen, in denen sie quasi auf die Religion zurückgeworfen werden, wo sie plötzlich merken, dass etwas in ihrem Leben fehlt.

Ist insofern auch die Religiosität in der Jugendarbeit und -hilfe wichtig?

Der Glaube, das was wir vermitteln in unserer Kinder- und Jugendhilfe und Jugendarbeit, kann und ist meines Erachtens ein wesentlicher Sozialisationsfaktor, der jungen Menschen eine Orientierung für ihr eigenes Leben geben kann. Insofern halte ich ihn für sehr wichtig, deswegen will ich aber nicht gleichzeitig sagen, dass z.B. die Arbeit der Arbeiterwohlfahrt nicht auch eine Orientierung geben kann. Wir sind durch unseren Glauben anders geerdet, ich halte die religiöse Sozialisation für junge Menschen für eine große Bereicherung.

Sie würden mir wohl also auch widersprechen, wenn ich die waghalsige These aufstellen würde, dass es sinnvoll wäre, einen Wohlfahrtsverband zu haben, der unabhängig von Staat und Kirche fungiert, vor allem, weil heutzutage Jugendliche einen viel geringeren Bezug zu Religion haben?

Das ist ein bisschen von hinten um die Ecke gedacht. Ich glaube, dass die Diakonie auf unserem evangelischen Glauben basiert. Wie sagt man so schön? ‚Das eine ist das Wort, das andere die Tat‘. Die Tat entspringt aus unserem Glauben. Insofern glaube ich auch, dass die konfessionell gebundene Wohlfahrtspflege nochmal mehr, als es möglicherweise die Paritätischen oder die AWO tun können, vermittelt, als nur den Dienst, die Hilfe und die Unterstützung. Sie vermittelt mehr, gerade auch in Phasen, in denen Menschen in Krisen geraten. Das kann Scheidung sein, das kann am Ende des Lebens sein. Das sind ja genau solche Situationen, wo Menschen mehr noch nach dem Sinn fragen. Da haben wir natürlich als christlich geprägte Wohlfahrtspflege enorm viel zu bieten. Deswegen halte ich es für sinnvoll, dass die evangelische Kirche ihre Diakonie hat und das natürlich auch in ihrem Dienst an den Menschen zum Ausdruck bringen kann.

Waren das auch die Argumente, weshalb Sie zur Diakonie gefunden haben? Sie haben ja selbst nie Theologie studiert.

Das ist eigentlich ganz interessant. Ich war sehr intensiv bei den Pfadfindern. In der Zeit des Studiums habe ich aber eher weniger mit Kirche zu tun gehabt. Als ich mit dem Studium fertig war, habe ich mich eigentlich nie bei der Kirche gesehen. Die kirchlichen und auch diakonischen Strukturen waren mir viel zu altbacken, zu wenig modern, zu wenig innovativ. Ich habe das gar nicht bewusst angestrebt, bei der Diakonie zu arbeiten. Dann kamen schon auch Situationen und Begebenheiten in meinem Leben, die durchaus auch kirchlich geprägt waren, sodass ich letztendlich doch bei der Diakonie gelandet bin. Das heißt, im Bewusstsein sah ich mich viel mehr beim Paritätischen, wenn ich das mal so sagen darf (lacht).
Ich habe sogar selber mal mit einer Freundin ein Konzept entwickelt, für ein Angebot. Wir haben gedacht, wir werden selber eine Initiative und machen das alles einmal ganz anders, als diese traditionellen, altbackenen Wohlfahrtsverbände, vor allem der Kirchen.

Stützt das dann vielleicht doch meine These von vorhin?

Nein, nein. Erstmal sind wir tatsächlich viel innovativer als weithin immer gedacht und gesagt wird. Das muss uns eigentlich mehr anspornen, motivieren, eher zu schauen: Was müssen wir denn verändern? Deswegen bin ich bei der Diakonie und ich bin das jetzt bald seit 30 Jahren, weil für mich immer entscheidend und wichtig war, dass wir uns für alle Entwicklungen, Nöte und Herausforderungen, die Menschen und unsere Gesellschaft haben, öffnen. Als ich damals in der Diakonie anfing, gab es zum Beispiel schon eine ganz breite Elterninitiative für die Schaffung von Kitaplätzen. Unter-drei-Betreuung gab’s überhaupt gar nicht. Ich habe meinen ersten Sohn am Ende des Studiums bekommen, ich war somit selber betroffen. Dann kamen Eltern auf die Diakonie zu und wollten gerne Unterstützung.
Die Diakonie hat Betreuung für Unter-Dreijährige grundweg abgelehnt. Das war jahrelang, meines Erachtens, ein fataler Fehler dieser Institution, sich für solche Entwicklungen nicht zu öffnen und zu unterstützen. Deswegen arbeite ich auch gerade sehr stark mit Start-Up-Unternehmen oder Initiativen, beispielsweise sehr intensiv mit nebenan.de, zusammen. Wir müssen uns genau diesen Entwicklungen zuwenden und diese nicht nur ablehnen, sondern eher schauen: Wo können wir auch gemeinsam in Kooperation die Diakonie weiterentwickeln?

Ich habe Ihnen ein Zitat mitgebracht, das von Ihnen aus dem Jahr 2011 stammt: „Es kommt darauf an, evangelische Positionen deutlich zu vertreten und die Interessen der diakonischen Träger nachdrücklich einzubringen.“ Wenn ich Sie jetzt so erlebe, würde ich vermuten, dass Sie dieses Zitat sieben Jahre später immer noch genau so unterschreiben würden?

Das würde ich ganz genau so noch unterschreiben. Die Frage ist aber immer: Was sind denn die Interessen der Träger? Wir haben eine ganze Menge Entwicklungen, die auch erfordern, dass Träger sich ändern. Die ganze Behindertenhilfe ist weg von den großen Institutionen. Es wird immer Menschen mit Behinderung geben, die in Einrichtungen leben müssen. Aber dort neue Formen von Wohngemeinschaften, von ambulant betreuten Settings, auch für Schwerstmehrfachbehinderte zu finden: Das sind Entwicklungen, da müssen die Träger natürlich auch mitmachen, sich öffnen. Auch dafür setze ich mich ein: Einerseits für die Rahmenbedingungen, aber andererseits, dass unsere Träger sich öffnen und weiterentwickeln und fragen: ‚Was wollen die Menschen?‘.
Dabei ist es wichtig, immer vom Willen des Menschen auszugehen und nicht zu sagen: ‚Wir wissen schon, was gut für euch ist!‘ Das kann nicht unsere Haltung sein, sondern wir müssen eher mit den Menschen schauen, wie sie eigentlich leben wollen und wie wir das unterstützen können.

Was ist denn Ihrer Meinung nach, sowohl persönlich, als auch in Bezug auf Ihren Job, aktuell das größte Problem in der Gesellschaft und wie gehen Sie es an?

Das größte Problem unserer Gesellschaft ist der Rechtspopulismus und die Gefährdung unserer Demokratie.
Mittlerweile gibt es nur noch zwei Prozent der Länder, in denen wirklich absolute Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit herrscht. Zwei Prozent der Länder auf der Welt – und wir gehören dazu. Ich finde, das kann man gar nicht hoch genug anerkennen und schätzen. Wie labil das ist, merken wir aktuell durch den Rechtsruck ganz deutlich. Das macht mir Sorge. Wenn die AfD im Bundestag Anfragen stellt, wie viele Menschen behindert sind, weil es Inzucht in Migrantenfamilien gegeben hat oder wie viele Frauen der Menschen, die zu uns gewandert sind und ihre Familien nachholen, nachkommen dürfen, die dann alle möglicherweise Hartz IV beziehen könnten, dann wird da ein Menschenbild transportiert, was ich ganz erschreckend finde. Da sind wir auch noch nicht ganz sprachfähig in der Frage: Wie gehen wir mit denen um? Sie sehen sich ja gerne in der Opferrolle, das wollen wir natürlich auch nicht stärken. Das ist eine ganz schwierige Situation.
Was tun wir dagegen? Wir haben seit diesem Jahr sechs neue Kolleginnen, die Demokratieprojekte erarbeiten. Wir sind der einzige Bundesverband, der tatsächlich direkt Mitarbeitende eingestellt hat, die Schulungsmaterialien entwickeln. Wir haben eine Ausstellung gemacht: Kunst trotz(t) Ausgrenzung. Wir machen Netzwerkarbeit und bieten Schulungen an. Als Bundesverband versuchen wir das dann auch in die Regionen zu bringen.

Erfüllt die Kirche dadurch auch ihre gesellschaftliche Verantwortung?

Durch die Diakonie auf jeden Fall. Natürlich hat die Kirche noch darüber hinaus eine andere gesellschaftliche Verantwortung, die sie auch unmittelbar als Kirche wahrnehmen. Aber natürlich ist die Diakonie die Tat, mit der die evangelische Kirche Verantwortung in dieser Gesellschaft übernimmt.

Wie würden Sie diese Verantwortung definieren, welche Aufgabenfelder sind damit gemeint?

Das eine, wofür ich mich auch sehr stark einsetze, ist die tätige Hilfe für notleidende Menschen: Für Menschen mit Behinderung, für Alte, für Obdachlose. Da wo wir Not sehen zu helfen, nicht erst zu fragen: Wie wird das finanziert? Das ist immer die Frage der Privaten. Wir sagen: Da ist Not, da müssen wir helfen.
Darüber hinaus haben wir den Auftrag, dass wir die Bedingungen für das Leben der Menschen mitgestalten müssen. Das heißt, wir haben einen politischen Auftrag, der eben bedeutet, dass wir uns einsetzen müssen, dass alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben, dass demokratische Prozesse und lebendige Nachbarschaften gelebt werden, gerade im Bereich Bildung und Schaffen von Rahmenbedingungen für Menschen in unserer Gesellschaft.

Ist die Kirche durch die Diakonie ein Ort sozialer Gerechtigkeit?

In unserer Lobbyarbeit ist es ein zentrales Thema, dass wir uns permanent für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Das machen wir, wenn es um die Regelsatzberechnung in der Grundsicherung von Kindern und Familien geht. In unserer Lobbyarbeit ist das quasi das Eigentliche. Als Institution ist es natürlich auch ein Anspruch an uns selber.

Inwiefern ist die Diakonie an internationalen humanitären Projekten beteiligt oder gar vorreitend? Sind das nicht die eigentlichen Punkte, an denen es jetzt anzusetzen gilt?

Ich war letzte Woche drei Tage auf der Mitgliederversammlung des europäischen Diakonieverbands in Polen. Da ist es wichtig, gerade in dieser Situation, in der Europa immer rechtskonservativer, populistischer zu werden scheint, dass die Diakonie zusammenhält. Es war interessant, wahrzunehmen, wie es in einem Land wie Polen plötzlich schwierig wird, sich öffentlich zu äußern.
Sie sehen die Fahnen vor unserer Tür: Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt und Diakonie Deutschland. Das heißt, wir unternehmen institutionell die Zusammenführung der internationalen, europäischen und nationalen Sozialpolitik, aber eben auch Hilfe und Unterstützung. Wir denken kaum mehr, das habe ich früher im Landesverband anders gesehen, national. Bei den ganzen Fragen, die wir bearbeiten, Flucht und Migration sowieso, geht es immer darum: Was sind die Fluchtursachen, was kann man daran tun, wie kann man Zivilgesellschaft in den Ländern fördern und unterstützen? Das tut Brot für die Welt mit einer Menge an Fördermitteln und Projekten.
Wir haben eine Mitgliederversammlung, für die ich in hohem Maße inhaltlich verantwortlich bin. Dieses Jahr wird das Schwerpunktthema dieser Mitgliederversammlung für Diakonie und Entwicklung Demokratie und Zivilgesellschaft sein. Das schauen wir uns dann aus den drei Perspektiven an: international, europäisch und national.

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