Integrationspolitik betrifft nicht nur Geflüchtete

#poBTW17

Kübra Gümüşay setzt sich für muslimisches Engagement ein. Unsere Reporterin Betül Mis hat sie auf dem Zahnräder-Netzwerk-Treffen in Berlin getroffen. Sie fragte Gümüşay nach der Repräsentation von Muslimen in der Politik.

Kübra Gümüşay (rechts) bei der Podiumsdiskussion auf dem Zahnräder-Netzwerktreffen im September. Foto: Betül Mis
Kübra Gümüşay (rechts) bei der Podiumsdiskussion auf dem Zahnräder-Netzwerktreffen im September. Foto: Betül Mis

Kübra Gümüşay ist Jorunalistin, Bloggerin und Netz-Aktivistin, bekannt durch ihren Blog , ihre Hashtags #schauhin, #ausnahmslos und ihrer Rede über organisierte Liebe im Netz als Antwort auf organisierten Hass im Netz. Als Trägerin hybrider Identitäten blickt sie mit Unmut und zugleich Hoffnung auf die anstehenden Bundestagswahlen.

Was wünscht du dir vom neuen Bundestag zur Stärkung des muslimischen Engagements? 

Ich denke, dass die Chancen des muslimischen Engagements überhaupt nicht einzugrenzen sind, weil es noch so viel zu tun gibt; es sei denn, man setzt sich selber eine Grenze. Ich würde muslimisches Engagement auch gar nicht beschränken auf Dinge, die die muslimische Gemeinschaft verändern, sondern die gesamte Gesellschaft. In den letzten sieben Jahren haben wir innerhalb des Zahnräder-Netzwerkes auch gesehen, was für tolle Initiativen entstehen können, zum Beispiel zum Thema Bildungsgerechtigkeit (WoW. e.V.), Geflüchtetenarbeit, Umweltschutz (Hima e.V. und NourEnergy e.V.) und Kunst (i,slam). Auch Dinge, die nich spezifisch muslimisch erscheinen, können ein islamisches Fundament haben, weil man als Muslim dazu angehalten ist, die Welt zu einer besseren zu machen und sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für Andere einzusetzen. Was ich mir wünsche ist, mehr Sichtbarkeit für muslimisches Engagement. Und da wünsche ich mir im Gegenzug von Muslimen, dass sie sich mit einer noch größeren Selbstverständlichkeit für andere Minderheiten einsetzen. Als Muslim kann man auch in seiner Arbeit die Vervollkommnung darin sehen, nicht nur ein Sprachrohr für alle Muslime, sondern ein Sprachrohr für das Gute zu sein.

Ich denke die Aufgabe der Politik ist es, wenn sie über Muslime sprechen, sie nicht nur im Kontext von Problemen zu erwähnen, sondern sie auch ganz klar als Wählerguppe anzuerkennen und um sie zu werben. Es muss verstörend sein für Muslime, wie ein Spielball herumgeworfen zu werden und Parteien danach zu beurteilen, wer drescht weniger auf Muslime ein, anstatt zu denken wer wirbt um meine Stimme. Das kann nicht das Maß der Dinge sein. Ich erhoffe mir von der Bundespolitik, dass sie die muslimische Bevölkerung zu einem selbstverständlichen Teil der Bevölkerung macht und nicht ihre Existenzgrundlage in Diskussion stellt, nach dem Motto: „Gehört der Islam oder gehören die Muslime zu Deutschland?“

In den letzten Jahren haben sich rechte Parolen wieder gehäuft. Zum Beispiel schrieb der AfD Bundestagskandidat Nicolaus Fest auf seinem Blog: „[M]an [muss] das Wort von Max Frisch, dem zufolge wir Gastarbeiter riefen, aber Menschen bekamen, vielleicht korrigieren: Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel.“ Woran liegt das?  

Ich will jetzt nicht AfD Psychologin spielen und das versuchen zu rechtfertigen. Eine solche Aussage passt einfach nicht in eine plurale, progressive, freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Eine solche Aussage zu tätigen heißt, eine Menschengruppe zu entmenschlichen. Max Frisch hat mit dieser Aussage damals deutlich gemacht, dass Menschen gerufen wurden, die andere Bedürfnisse, als nur die Arbeit haben. Es ging um zwischenmenschliche Beziehungen, es gibt um Wünsche, Hoffnungen, Visionen, Ängste und Zweifel. Entmenschlichung von Menschen ist der erste Schritt, sie Hass und Hetze auszusetzen. Und, dass er das nun verkennt zeigt, dass die AfD nicht imstande ist, Bevölkerungsgruppen als Menschen zu betrachten. Das sagt viel über deren Menschenbild aus.

Wie kann Integration auf gesellschaftlicher und politischer Ebene besser funktionieren?  

Ich finde, Naika Foroutan drückt das gut aus: Es muss Symbolpolitik geben, aber vor allem strukturelle Veränderung. Wenn wir über Integrationspolitik sprechen, denken alle gleich an Migranten und Geflüchtete. Aber Integrationspolitik sollte alle Gesellschaftsräume umfassen: Integrieren wir die gesamte Gesellschaft in unsere öffentliche, politische, gesellschaftliche und emotionale Entwicklung? Fühlen sich alle Gesellschaftsteile mitgenommen? Überlegt man auf dieser Ebene, sieht man auch, wie nachlässig man zum Beispiel mit Ostdeutschen umgegangen ist. Bei der Vereinigung von Ost und Westdeutschland wurden zum Beispiel geschiedene Frauen übergangen, die während ihrer Mutterzeit damals nicht in die Rentenkasse einbezahlen konnten, aber trotzdem Anspruch auf einen höheren Rentenbetrag hatten, weil sie symbolisch einzahlten, welche Regelung durch die Wiedervereinigung entfiel. Seither saß man politisch diesen Missstand der Altersarmut bei Frauen in der DDR einfach aus.

Oder auch der Abbau von Gymnasien in ländlichen Gebieten, die dann nicht mehr in die Bildungspolitik integriert sind. Wenn man all diese Integrationsthemen behandelt hat sieht man, dass Integrationspolitik nicht nur einseitig Muslime und Ausländer tangiert, sondern schlichtweg eine strukturelle Arbeit ist, die gut für alle ist.

Stichwort: Intersektionalität! Auf den Wahlplakaten sind in diesem Jahr buntere Gesichter vertreten: Menschen mit Migrationshintergrund, Schwarze Menschen, Frauen, homosexuelle Menschen, etc. Wie weit sind wir auf gesellschaftlicher und politischer Ebene und im Arbeitssektor in puncto Repräsentanz von Minoritäten? 

Das ist noch nicht ausreichend. 22 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Wenn man theoretisch die gesellschaftliche Pluralität auf den Wahlplakaten repräsentieren wollte, müsste fast jede vierte Person auf Wahlplakaten auch einen Migrationshintergrund haben. Ich sehe überhaupt nicht die gesellschaftliche Pluralität in der aktuellen Politik und auch nicht bei den aktuellen KandidatInnen vertreten. Wir sind Fortschritte gegangen, aber das ist noch nicht zufriedenstellend. Und auch so eine Partei, wie die CDU/CSU, die verschiedene Familienmodelle in ihr Parteiprogramm reinschneidet, widerspiegelt diese Modelle gar nicht in ihrer Familienpolitik. Das ist für die Wähler schlichtweg irreführend. Vorhaben müssen konsequent und authentisch sein! Es geht ums tatsächliche Interessenvertretung. Bloß weil jemand sich einer Minderheit zuordnet, homosexuell, emigriert oder LGBTIQ ist, wie Caitlyn Jenner in den USA oder Alice Wendel in der AfD, bedeutet das nicht, dass sie sich auch für die Interessen dieser Gruppe stark macht.

Trotzdem muss ich sagen, dass die Entwicklung der letzten zwei Jahre Teile der Bevölkerung erschrocken hat, aber auch in Bewegung gebracht hat, vor allem diejenigen, die meinten, es würde alles bleiben, wie es ist. Und nun merken sie, dass man sich sehr engagieren muss, damit die Errungenschaften, die wir als plurale und offene Gesellschaft erreicht haben erhalten bleiben und sich nicht verkehren. Ich sehe eine politisiertere und engagiertere Jungend und setze viel Hoffnung rein, dass sie sich stets ihrer Verantwortung bewusst wird.

Was erhoffst Du Dir von den Bundestagswahlen? 

Ich vermute, dass leider die AfD in den Bundestag einziehen wird. Das ist der Hauptmissstand, weil damit Dinge im repräsentativen deutschen Parlament gesagt werden dürfen und damit legitimiert werden, die in unserer Gesellschaft längst Tabu sein sollten, wie zum Beispiel Gaulands Aussage über die Staatsministerin Aydan Özoguz. Das ist keine Meinung sondern schlichtweg Rassismus und gehört nicht in unsere Gesellschaft. Deshalb wäre für mich wichtig, dass die Parteien im Bundestag sich klar von der AfD distanzieren und nicht die politische Agenda von rechtsaußen bestimmen lassen. Die Parteien sollten ihre eigene Agenda verfolgen, und den Fokus von den bisherigen Themen Migration, Geflüchtete und Islam umlenken. Längst vernachlässigte Themen, die an der Tagesordnung stehen sollten, sind: Netzpolitik, Generationengerechtigkeit, Familienpolitik, Bildungspolitik und so weiter.

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