Wehrpflicht an der Tagesordnung

Militär
Foto: Maj. Arye Sharuz Shalicar

Seit 2011 gibt es sie in Deutschland nicht mehr, in Israel steht sie auf der Tagesordnung: die Wehrpflicht. Nach ihrem Schulabschluss dienen junge Frauen 21 Monate in der israelischen Armee, bei jungen Männern sind es drei Jahre. Für junge Deutsche, die nach 2011 ihren Schulabschluss gemacht haben, ist das kaum noch vorstellbar – für junge Israelis ist der Wehrdienst dagegen Bürgerpflicht und wichtiger Karriereschritt zugleich.

Die israelische Staatsbürgerschaft ist an die Wehrpflicht geknüpft. Nur israelische Araber und Orthodoxe sind von ihr befreit, ihnen ist ein freiwilliger Dienst möglich. Frauen können von der Wehrpflicht befreit werden, beispielsweise wenn sie schwanger oder verheiratet sind, bei Männern ist dies jedoch ein langwieriger und komplizierter Prozess. Wer den Wehrdienst verweigert, wird oftmals von der Gesellschaft geächtet. Viele erhalten schon während ihres Wehrdienstes eine Ausbildung, die zu den angesehensten Ausbildungen des Landes zählt und hoch anerkannt ist. Auch weil in Israel verschiedene Ethnien miteinander leben, ist es für das Land wichtig, die jungen Generationen miteinander zu vereinen. Der Wehrdienst soll damit auch eine Erziehung darstellen, die jedem jungen Staatsbürger zuteil wird. Ebenso soll er dabei helfen, Einwanderer sowohl auf sprachlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene besser integrieren zu können.

Was macht die israelische Armee besonders?

Das Besondere an der israelischen Armee ist jedoch, dass man nicht zwingend israelischer Staatsbürger sein muss, um einen Wehrdienst dort zu leisten. Auch Nichtisraelis haben die Möglichkeit, der israelischen Armee zu dienen: Das Sar-El-Programm beispielsweise ermöglicht sowohl jüdischen als auch nichtjüdischen Menschen einen – wenn auch nur kurzen – Dienst ohne Waffe. Auch die sogenannten Machal-Einheiten der Streitkräfte können von Nichtisraelis zwischen 18 und 23 Jahre für 14,5 Monate unterstützt werden, solange die Freiwilligen jüdisch sind.

Jene Besonderheit der Armee kennt auch Arye Sharuz Shalicar: Er ist in Berlin aufgewachsen und studierte dort an der Freien Universität sowohl Politikwissenschaften als auch Jüdische Studien und den Islam. Heute ist er als Presseoffizier der israelischen Streitkräfte für den Bereich Europa zuständig. „Ich habe sowohl in Deutschland einen Wehrdienst geleistet als auch in Israel“, berichtet Arye Sharuz Shalicar von seinen eigenen Erfahrungen. Nach dem Schulabschluss leistete er den Grundwehrdienst als Sanitäter in Deutschland, später ging er dann nach Israel, um auch dem Land seiner jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern zu dienen.

Foto: Maj. Arye Sharuz Shalicar

Das Bild, dass die Wehrpflicht automatisch einen Dienst an der Waffe bedeutet, sei grundlegend falsch, erklärt er. „Zwischen der deutschen und der israelischen Armee gibt es zahlreiche Unterschiede, aber wie alle anderen Armeen der Welt verbindet sie ebenso eine Gemeinsamkeit: Nicht jeder dient nur an der Waffe.“ In der israelischen Armee gäbe es stattdessen zahlreiche Jobs, die im Zentrum der Armee stehen und keinen Dienst an der Waffe darstellen. „Aufgrund der langen Dauer kommt der Wehrdienst beinahe einer Ausbildung oder einem Studium gleich: Wer in seinem Wehrdienst beispielsweise als Ingenieur arbeitet, verlässt die Armee mit einer dreijährigen Ausbildung als Ingenieur, sodass der Wehrdienst die Karriere entscheidend beeinflussen kann.“

„Eine Plattform für Begegnungen“

Neben der Ausbildung der Jugendlichen hat die Armee in Israel noch eine weitere besondere Bedeutung, sagt Shalicar: Die Integration. „Der Hauptgrund für die Armee ist zwar nicht die Möglichkeit, eine Plattform für 18-Jährige zu schaffen, die gemeinsam in Israel leben, aber aus unterschiedlichen Regionen, Ethnien und sozialen Schichten stammen, die arabisch oder hebräisch sprechen, die säkular oder religiös sind – ein wichtiger Grund ist es aber dennoch, eine solche Plattform für Begegnungen zu schaffen“, erklärt der Offizier.

Knapp 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ist arabisch und damit nicht zum Wehrdienst verpflichtet, kann ihn aber freiwillig leisten. Dasselbe gilt für die etwas kleinere Gruppe der Orthodoxen. Dazu kommen neben Israelis, deren Vorfahren bereits seit mehreren Generationen in Israel wohnen, zahlreiche junge Menschen, deren Familien zugezogen sind. Jede junge Generation Israels setzt sich damit aus sehr unterschiedlichen Menschen zusammen, deren Wege sich im Wehrdienst kreuzen.

Mit Identität und der Identifikation mit dem Herkunftsland hat das für Arye Sharuz Shalicar zuerst einmal nichts zu tun. „Dennoch wird dir bewusst, dass du deinen Teil zur Sicherheit im Land beitragen musst“, beschreibt er. „Wenn du beispielsweise am Iron Dome stationiert bist und eine Rakete abwehrst, die sonst eventuell auf dem Dach des Hauses deiner eigenen Eltern hätte landen können, fühlst du dich augenblicklich direkt zuständig für die Sicherheit Israels.“ Aufgrund der Instabilität und der von Krieg geprägten Gebiete rund um Israel sei es dabei besonders wichtig, dass das Land sich selbst verteidigen könne.

„Europa steht vor einer neuen Realität.“

Während seiner Bundeswehrzeit in Deutschland hätten viele seiner Kameraden nicht verstanden, warum sie dort überhaupt waren. Sie hätten den Wehrdienst als etwas gesehen, das es abzuhaken galt , das damals keine große Rolle spielte. Das könnte sich ändern, meint Shalicar: „Nicht nur durch die Flüchtlingsströme, sondern auch durch den Terror steht Europa vor einer neuen Realität: Grenzen sind nicht mehr das, was sie einmal waren“, erklärt er. „In so einer Situation müssen führende Politiker und Sicherheitsinstitutionen umdenken und sich anpassen.“ Ob dabei ein so dramatischer Schritt wie das Wiedereinsetzen der Wehrpflicht gefordert ist, wolle er nicht beurteilen. Trotzdem: „Ich sehe, dass auch in Deutschland inzwischen Menschen mit verschiedenen Herkunftsländern, Religionen, Vorgeschichten etc. aufeinander stoßen, sodass man schon sagen kann, dass Deutschlands Lage sich an Israels annähert“, sagt der Offizier. Deutschland müsse sich mit der neuen Realität auseinander setzen.

Was sagt ein Israeli über seine Zeit bei der Armee?

Den Wehrdienst in Israel leistete auch Dor Glick: Er wurde 1985 geboren, wuchs in Israel auf und lebt heute in Berlin. Im Interview erzählt er davon, wie er als Kind zum Deutschunterricht ins Goethe-Institut ging. Später studierte er Jüdische Studien, Deutsche Literatur sowie Internationale Geschichte und Beziehungen. Er ist Europa-Korrespondent für den israelischen Fernsehsender Channel 10 und war davor bereits Parlamentarischer Assistent von Volker Beck, Projektmanager am Goethe-Institut und Auslandskorrespondent für Ynet.

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Dor Glick (Mitte) im Gespräch.

Für ihn ist die Wehrpflicht „ein Teil davon, Israeli zu sein“, er selbst leistete einen dreijährigen Wehrdienst. „Israel befindet sich in einer besonderen Situation, das Land hat viele Feinde und nur 8 Millionen Bürger, während die Feinde viel größere Zahlen haben. Deshalb muss jeder dienen“, sagt er. Auf die Frage, ob das seine Identifikation mit seinem Herkunftsland verstärkt hat, verneint er jedoch. „Das hat nichts mit Identität zu tun. Wenn du in Israel aufwächst, gibst du nach deinem Schulabschluss in Form des Wehrdienstes der Gesellschaft etwas zurück. Auch für die folgende Karriere kann der vorhergehende Wehrdienst ausschlaggebend sein und das Militär übernimmt dabei eine wichtige Rolle.“

„Gleichzeitig bin ich absolut für eine gesunde Zivilgesellschaft in Israel“, erklärt er weiter. „Eine Militärgesellschaft will und mag ich nicht. Das ist für mich kein Paradox: Armeedienst für alle soll nur dafür genutzt werden, den Schutz des Staates gegen die Feinde zu sichern. Die anderen Kräfte unserer Gesellschaft müssen in Richtung Bildung, Gesundheit usw. gehen – nicht in Richtung mehr Militarismus.“

Wann und warum führen Staaten die Wehrpflicht ein?

Israel ist jedoch bei weitem nicht das einzige Land, in dem es eine Wehrpflicht gibt: Einige Staaten führen die Wehrpflicht heutzutage wieder ein, wenn sie sich bedroht sehen: so beispielsweise Litauen. 2008 wurde die Wehrpflicht dort abgesetzt, 2015 wurde bekannt gegeben, dass man sie als Reaktion auf die Ukraine-Krise vorerst wieder einführen würde. Auch Kanada führte jeweils während des Ersten und während des Zweiten Weltkriegs die Wehrpflicht ein, wobei es jeweils zu innenpolitischen Krisen, sogenannten Wehrpflichtkrisen, kam.

Wie sehen andere Länder den Wehrdienst?

Ein Beispiel ist unser Nachbarland Österreich. Eingezogen werden können dabei alle männlichen Staatsbürger unter 35 Jahre, wobei die zu leistende Dauer aktuell sechs Monate beträgt. Auch in der Schweiz gilt die Wehrpflicht noch, auch wenn dagegen protestiert wird. Die „Gruppe Schweiz ohne Armee“ (GSoA) begann 2012 eine Volksinitiative unter dem Titel „Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht“, die durch 73,2% der Abstimmenden unterstützt wurde.

In China beträgt die Wehrpflicht ganze zwei Jahre – wie in Israel für Frauen. Studenten können davon befreit werden, müssen jedoch auch an einem Grundkurs teilnehmen, der über mehrere Wochen geht und auf dem Campus ihrer Universität organisiert wird. Frauen werden nur eingezogen, wenn es nötig ist. Erst 2016 wurden hingegen in Norwegen die ersten Frauen eingezogen. Dass nun auch Staatsbürgerinnen der Wehrpflicht unterliegen, soll dabei keinesfalls die Gesamtzahl der Wehrpflichtigen erhöhen, sondern einzig und allein den Frauenanteil in der Armee steigern.

In Südafrika wurde die Wehrpflicht schon 1994 abgeschafft. Zur Zeit der Apartheid galt sie nur für weiße Staatsbürger ab 16 Jahre. Sie mussten mehrere Jahre dienen, wobei sie immer wieder einberufen werden konnten und längere Abstände zwischen ihren Einsätzen lagen. Während ihres Dienstes konnten die Südafrikaner auch bei der Polizei eingesetzt werden, lange Zeit setzte sich ein Großteil der südafrikanischen Polizei sogar aus Wehrdienstleistenden zusammen. Heute wird vermutet, dass in den 80ern allein 50 000 Staatsbürger, die der Wehrpflicht unterlagen, das Land verließen, um dieser zu entgehen.

Im internationalen Vergleich ist Deutschland mit der Abschaffung der Wehrpflicht also eher die Ausnahme. Die Israelis mit ihrer dreijährigen Wehrpflicht befinden sich dagegen in bester Gesellschaft, auch wenn ihr Wehrdienst aufgrund ihrer besonderen Situation vergleichsweise lang ist.

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