Wie die Jungfrau zum Kinde

Lilith Grull interviewt Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT und damit eine der wenigen weiblichen Chefs in der Medienbranche. Ein Gespräch über Powerfrauen, Chefposten und die Medienlandschaft von heute.

Sabine Rückert
Sabine Rückert ist gerne Chefredakteurin. Foto: privat
Liebe Frau Rückert, Sie sind fast ein Vierteljahrhundert bei der ZEIT und haben sich zunächst als Gerichtsreporterin einen Namen gemacht, woher kam ihre Motivation?

Zum Journalismus gekommen bin ich wie die Jungfrau zum Kinde. Ich suchte nach etwas, das mir nach dem Studium noch alle Türen offen ließ. Und dies schien mir der Journalismus zu sein. Je mehr ich mich später mit Kriminalberichterstattung beschäftigt und sie verstanden habe, desto mehr Freude hat sie mir gemacht. Mein Faible für Kriminalreportagen stammte noch aus meiner Zeit als Volontärin bei der Bild-Zeitung. Nach meinem Publizistik-Studium in München – das ziemlich überflüssig war – lernte ich an der Axel Springer Journalisten-Schule in Berlin. Dort blieb ich für zwei Jahre in der Redaktion der Bild-Zeitung. Ich schrieb für diverse Lokalausgaben von Bild und wurde mehr und mehr bei den Polizeireportern eingeteilt. So wurde dieser Bereich zu meiner Vorliebe. In der ZEIT habe ich mich dann auf Kriminal- und Justizreportagen spezialisiert. Als Stellvertretende Chefredakteurin komme ich heute aber leider kaum noch dazu.

Woran könnte es liegen, dass nur wenige Frauen eine redaktionelle Führungsposition inne haben?

Ich selber war auch nicht scharf auf einen Chefsessel. Aber Giovanni de Lorenzo hat mich eines Tages gefragt, ob ich in die Chefredaktion der ZEIT kommen möchte. Da dachte ich: Probier’s doch! Bereuen tu ich es nicht. Mein Aufgabenfeld hat sich seither total verändert. Zum Schreiben komme ich kaum noch, heute besteht meine Aufgabe im Koordinieren, Organisieren, Themen anregen, Autoren finden und vor allem in der Betreuung der ZEIT-Titelstory. In einer Redaktionsleitung sollte man unabhängig sein, sich nicht unterkriegen lassen und offen sein für unbequeme Positionen. Charakter, Erfahrung, Können und Einstellung definieren eine Führungsfigur – auch eine weibliche. Wir haben in der ZEIT mittlerweile ziemlich viele weibliche Führungskräfte und dazu exzellente Autorinnen, es ist eine Freude. Frauenthemen speziell interessieren mich nicht. Themen sind immer Frauen- und Männerthemen. Die feministische Karte habe ich nie gespielt. Aber ich denke trotzdem, zu wenige Frauen stellen sich auf eine Machtposition ein. Giovanni die Lorenzo suchte damals ganz gezielt nach einer Frau für die Chefredaktion. Doch er musste lange nach einer Ausschau halten, die geeignet war, den Posten sich auch zuzutrauen und auszufüllen.

Arbeiten Sie heute in einem anderen Journalismus als dem, für den Sie gelernt haben?

Ja natürlich! Allein schon deshalb, weil es heute Online gibt. Das gab es vor 25 Jahren nicht.

Wie hat sich der Journalismus verändert – auch in der ZEIT?

Ich habe mit 30 angefangen, im ZEIT-Dossier. Damals haben wir große Hintergrundstücke zu aktuellen Themen schnell zusammen geschrieben. Die waren eine Woche später immer noch aktuell. Heute hat sich das Dossier vollständig geändert. Man kann nicht mehr zu aktuellen Hintergründen rasch Informationen zusammentragen. Man konkurriert mit Online. Print kommt da nicht mehr hinterher. Also liegt der Fokus von Print jetzt auf anderen Themenkomplexen und journalistischen Formen. Wenn DIE ZEIT auf Dauer bestehen will, muss sie sich auf überlegenes Wissen konzentrieren und auf komplexere Formen zubewegen: Welterklärung und Deutung. Inhalte müssen tief recherchiert und im Zusammenhang eingeordnet und – intelligent – gedeutet werden. Nur so können wir uns unentbehrlich machen. Das heißt nicht, dass DIE ZEIT und ZEITonline sich trennen sollten, beide arbeiten lediglich anders. Sie ergänzen sich.

Bereichern die digitalen Veränderungen den Journalismus von heute?

Ja, es gibt viel mehr Möglichkeiten im Journalismus. Man kann sich ganz neue Formen ausdenken. Aber der Vormarsch des Digitalen hat nicht nur Vorteile. Auf die Schnelle werden oft nicht ausreichend fundierte Artikel publiziert. Ich persönlich merke es beim Justizjournalismus: Berichte auf Online-Plattformen werden innerhalb weniger Stunden verfasst und ins Netz gesetzt – über ein Verfahren, bei dem der Journalist kaum die Hälfte der Verhandlungstage anwesend war. Zusätzlich haben die Autoren oft nur wenig Ahnung von Justiz und Recht. Das ist generell auch bei Print ein großes Problem. So entstehen Unprofessionalität und Fehler. Man muss heutzutage nicht unbedingt verstehen, worüber man berichtet. Viele Autoren sind zum Journalismus gekommen, weil sie mal einen prima Artikel über irgendein Ereignis geschrieben haben. Dieses rechtfertigt aber nicht, dass sie anschließend Medizin-Berichterstattung machen oder eben Gerichtsberichte verfassen sollten. Diese Problematik des Wald-und-Wiesen-Halbwissens existiert im Journalismus ohnehin im Übermaß und wird durch den Zeitdruck des Onlinejournalismus nicht besser.

Was ist für Sie Vielfalt im Journalismus?

Vielfalt ist vor allem Meinungsvielfalt. Hier treffen wir auf das nächste Problem. Die Meinungen in allen Medien sind häufig dieselben, Kommentare eingeschlossen. Ich erlebe sehr wenige wirklich kluge originelle Stimmen. Meine große Hoffnung ist, dass ich durch mein Amt, Autoren für unsere Zeitung gewinnen kann, die für die Leserschaft ungewöhnlich und bereichernd sind. Natürlich gibt es eine große Bandbreite an Medien, letztendlich herrscht aber zu vielen Themen doch eine Einheitsmeinung. Die ZEIT hat glücklicherweise sehr viele originelle Köpfe unter ihren Autoren. So versuchen wir zur Vielfalt im Qualitätsjournalismus beizutragen.

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