Obwohl die Europawahl schon längst vorbei ist, lohnt es sich trotzdem, einmal zurückzuschauen und es zu reflektieren. Wen wählen junge Menschen in Deutschland und welche Faktoren beeinflussen ihr Wahlverhalten? Ein Meinungsinterview mit Politikwissenschaftler Alex Yusupov.
In dieser EU-Wahl dürfen Jugendliche in Deutschland bereits mit 16 Jahren wählen. Wie findest Du das?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass das Wahlalter in unseren Demokratien herabgesetzt wird. Schon im Jahr 1929 wurde die Volljährigkeit anders definiert. Es gab immer wieder die Diskussion, ab wann sind Menschen erwachsen und wie ist der Mix von Verpflichtungen und Rechten eigentlich am sinnvollsten. Erst war das Wahlalter in den USA 21 Jahre, gleichzeitig gab es die Wehrpflicht mit 18. Man hatte da diese komische Situation: Einerseits soll ein Mensch die Waffe tragen, nutzen und eventuell Menschen umbringen. Andererseits kann er oder sie aber nicht sein Wahlrecht ausüben, um Politik zu beeinflussen, die wiederum dazu führt, wo er oder sie als Soldat*in eingesetzt wird.
Solche Disbalancen gibt es immer wieder. Wir sind aber schon im Prozess. Es kann sein, dass wir in 20 Jahren darüber reden, dass das Wahlalter auf 14 herabgesetzt werden soll. Zum Einen hat es damit zu tun, dass wir die Grundmenge all derjenigen, die wählen, ausweiten. Zum Anderen üben Menschen, die wählen, Einfluss darauf aus, wie sie leben. Da ist es super, dass wir da weiterkommen.
Wie stehst du zu einer allgemeinen Wahlberechtigung ab 16 Jahren?
Wenn man auf die Argumente schaut, die historisch gegen eine Herabsenkung des Wahlalters, auch schon bei der Absenkung auf 18, sind, dann sind das immer dieselben: die Jugendhaftigkeit, die Menschen wären noch nicht seriös genug, die Erfahrung fehlt.
Für eine Wahl ab 16 spricht einerseits der zivilisatorischen Prozess. Die 16-Jährigen von heute sind anders als 16- Jährigen vor 50, 60 Jahren, in dem wie sie Zugang zu finanziellen Mittel haben, wie viel Selbstbestimmung sie ausüben können oder was sie anziehen und wo sie hingehen. Das hat sich geändert und die Politik hängt hinterher. Dafür spricht aber auch die neurowissenschaftliche Forschung. Sie liefert Fakten zu der Frage, wie werden Entscheidungen getroffen. Und wie ich das überblicken kann, ist die Forschung da ziemlich eindeutig: Man kann wissenschaftlich nicht sagen, ob die Entscheidungsfindung von einem oder einer 16-jährigen impulsiver oder weniger auf Informationen basiert ist.
Es gibt Experimente mit unterschiedlichen Altersgruppen, so ein bisschen wie der Wahl-O-Mat, nur mit fiktiven Parteien und fiktiven Programmen. Das muss überhaupt nichts Reales sein. Aber was damit untersucht wird, ist die Fähigkeit, eigene Interessen zu definieren und abstrakt geschriebenen Programme auszuwerten. Auch da schneiden jüngere Proband*innen nicht schlechter ab als ältere.
Wenn wir uns die demographische Struktur anschauen, sind wir immer noch in einem starken Übergewicht der älteren Generation, der per se nicht schlecht ist, jedoch aber bedeutet, dass die wichtigsten Entscheidungen von Menschen mit beeinflusst werden, die nicht mehr so lange leben werden, um alle diese Entscheidung mitzuerleben. Das ist demokratietheoretisch nicht in Ordnung. Und selbst die Ausweitung auf 16 stellt das nicht von den Füßen auf den Kopf, weil das nicht die bodenstärksten Jahrgänge sind.
Können Jugendliche durch das „Übergewicht der älteren Generation“ das politische System überhaupt beeinflussen? Und wie unterscheidet sich ihr Wahlverhalten von den älteren Gruppen?
Also auf jeden Fall können sie. Auf Deutschland bezogen wissen wir, was die populärsten Parteien sind. Das sind Grünen, das ist die FDP, das ist die AFD. Das sind alles Parteien, die radikale Kritiken des bestehenden Systems vorbringen. Sie tun das aus völlig unterschiedlichen Richtungen, sind nicht vergleichbar miteinander, aber vom Grundsatz her sind sie nicht der Mainstream.
Und wir sehen auch, dass die alten großen Parteien – die CDU, die SPD, die Linke – für junge Menschen total unattraktiv sind. Das sind Alarmsignale, dass das eigene Parteiprogramm gar nicht bei den Jungen ankommt. Selbst wenn die Stimme der Jüngeren jetzt nicht ausschlaggebend mathematisch wäre, ist sie sehr wichtig und beeinflusst natürlich auch die Politik und Gesetz. Denn die Jüngeren, die jetzt zum ersten oder zweiten Mal wählen, werden ja noch sehr oft wählen.
In einem Interview hast Du gesagt, dass deutsche Schüler*innen sich am meisten mit der Politik auseinandersetzen. Inwiefern tun sie das und was bewegt sie?
Die neusten Erkenntnisse kommen aus der Shell Studie. Es wurde festgestellt, dass die Politisierung bei den Schüler*innen höher ist, als bei den Student*innen. Das ist ganz anders als früher. Vor allem im „grünen Spektrum“, zum Beispiel durch Fridays for Future, die letzte Generation oder Schulstreiks. Es gibt auch viele junge Leute, die sich schon sehr früh systemkritisch äußern oder antidemokratische Stimmung kundtun. Das ist auch Politisierung. Das bedeutet, dass junge Leute sich eine Meinung zur Politik aufbauen und sie auch mitteilen.
Warum eine hohe Politisierung vorherrscht, ist umstritten. Es gibt zwei Theorien: Am linken Ende des Spektrums stehen Kinder von besser situierten Familien. Sie müssen meist keine Sorgen machen um ihren Job, um die finanzielle Stabilität ihrer Familie und die Wirtschaftsentwicklung machen. Sie denken über die Zukunft nach. Über eine Zukunft nach ihrem Erwerbsleben, über die Zukunft der nächsten und übernächsten Generationen. Das ist neu. Der Klimawandel ist bisher das einzige Thema, dass ein übergenerationelles Bewusstsein aufweist, wo Menschen sich über etwas Sorgen machen, was sie wahrscheinlich gar nicht erleben werden.
Am rechten Ende des Spektrums ist es umgekehrt: Die Menschen sind schon in jungen Jahren sehr unzufrieden über die Aussichten ihrer eigenen Biografien. Das muss gar nicht faktenbasierend sein, aber sie empfinden es so. Als würde die Politik nichts machen, als wären anderen Gruppen wichtiger: Migrant*innen, Geflüchtete, andere europäische Länder oder andere Themen. Und wenn dazu noch weitere Faktoren kommen, wie da Menschen die aus den ländlichen Gegenden kommen, vielleicht aus den neuen Bundesländern, wo mehrere Benachteiligungsfaktoren sich addieren, sehen wir zumindest in den Umfragen , dass die AfD davon enorm profitiert. Nicht nur bei den älteren Wählergruppen, wie früher die Annahme war, sondern auch bei jungen Menschen.
Bewegen sich dann die Jugendliche ausschließlich im linken und rechten Spektrum?
Die FDP hat auch bei den letzten Bundestagswahlen sehr gut abgeschnittenen bei jungen Wähler*innen. Da kann man sich auch fragen, warum. Es gibt eine starke libertäre Ideologie, in der Elon Musk der Held ist. Jemand, der durch Geld, Können, Talent und Glück, aber vor allem Geld die Welt verändern muss. Alles hängt nur von dir als Mensch ab und die Gesellschaft ist eigentlich überhaupt keine relevante Kategorie. Das kommt der FDP zugute, weil sie in unserer politischen Landschaft am ehesten die Partei ist, die solche marktorientierten Töne einschlägt.
Sie sprechen Menschen an, die sagen: „Also dieses Staatswesen stelle ich mir anders vor.“ Und vor allem jene, die technikaffin sind. Die Geschwindigkeit der technologischen Revolution der letzten Jahre ist atemberaubend. Politische Systeme entwickeln sich nicht einmal halb so schnell, nicht mal viertel so schnell, sondern sind in einem Bruchteil dessen. Und wenn man feststellt, dass es ein Dinosaurier-System ist, dann entwickelt man auch sehr ablehnende Haltung.
Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass Jugendlichen sich mit der Politik auseinander- und ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen, auch wenn diese komplett unterschiedlich sind. Doch warum gewinnen (rechts-) populistische Parteien immer mehr Stimmen, auch unter jungen Menschen?
Je populistischer eine Partei ist, egal ob links oder rechts, desto einfacher sind ihre Lösungen. Und einfache Lösungen kommen vor allem bei Jüngeren gut an. Dass es schon einen Grund gibt, warum politische Probleme kompliziert sind und warum man sie nicht schnell und einfach mit einer Entscheidung lösen kann, also die Zusammenhänge im Details zu erklären, das ist nicht konkurrenzfähig. Und nach der Wahl zu evaluieren, wen habe ich gewählt oder auf Abgeordnetenwatch zu gucken, was verdient der oder diejenige von anderen Quellen, das ist kompliziert, da muss man googeln und Zeit investieren.
Die Bundesrepublik ist ein sehr konsensorientierter Staat, dessen gesamte politische Kultur darauf aufbaut, alle anzuhören und alle zu integrieren. Wenn man lang genug alle Stimmungen anhört und Kompromissen sucht, findet sich schon welche. Doch Kompromisse bedeuten auch, dass am Ende Lösungen herauskommen, die für alle nicht zufrieden stellend sind. Und das kommt scheinbar schlecht an. Vor allem bei Menschen, die in rechten Linien sind und sich denken: „Das sind alles Lügen. Deswegen wollen wir eine radikale Rechtswende, die alles anders machen soll. Und es gibt einfache Lösungen, denn wir sind nicht alternativlos“. Am rechten Rand gibt es starke, einfache Botschaften, auf die man gut reagieren kann.
Grundsätzlich ist es so, dass die Anzahl der Krisen heutzutage sehr hoch ist: die grüne Wende, die Migrationskrise, die Klimakrise, Kriege um Europa herum. Es gibt viel Angst und Rechte, vor allem Rechtsextreme, geben einfachere Antworten auf diese Ängste. Jetzt, da wir in einem Krisenstrudel sind, kommen wieder Nachfragen nach althergebrachten Slogans, wie „Die Nation muss zusammenhalten“; „Unsere Interessen zählen mehr“; „Wir können nicht immer die anderen retten, wir müssen an uns selbst denken.“ Dieser Egoismus wird am ehesten von rechten Politiker*innen gespielt.
Könnte fehlende politische Bildung an den Schulen auch ein Grund für den Rechtsruck unter jüngeren Menschen sein?
Ich kann mir da keine pauschale Aussage erlauben. Das Problem ist die Politisierung und nicht die fehlende Information. Es geht nicht um das Wissen. Das Wissen ist leicht verfügbar, es ist überflüssig, es ist überall. Es geht um die Praktiken. Es geht darum, dass man früh das Gefühl bekommt, „Das hat was mit mir zu tun, das betrifft mich und ich habe Einfluss darauf.“ Der klassische Unterricht zur politischen Bildung, der Diagramme aufzeichnet, wie gewählt wird oder welches Staatsorgan wem wie übergeordnet ist, hat damit nichts zu tun. Politische Bildung muss partizipativ sein, muss praktische Projekte beinhalten, muss eingebunden sein in Gemeinderäte, Jugendparlamente, die EU oder vielleicht auch ganz frei ist, wie diese neueren Projekte Brand New Bundestag oder JoinPolitics. Da geht es um junge Politiker*innen, da geht es ums Machen.
Im Endeffekt ist der klassische schulische Unterricht nicht der richtige Ort, um Zugehörigkeit für den politischen System zu vermitteln. Da sind wir wieder am Startpunkt: Früh wählen gehen zu dürfen, ist essentiell.
Transparenzhinweis: Alex Yusupov arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. (FES) ist die älteste sogenannte parteinahe Stiftung Deutschlands und steht der SPD nahe.
Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redaktion entstanden. Bei Fragen, Anregungen, Kritik und wenn ihr selbst mitmachen mögt, schreibt uns eine Mail an redaktion@jugendpresse.de