Politik ist trocken, langweilig und offenbar nur etwas für alte Menschen. politikorange-Redakteur Nils Hipp fragt sich, warum sich viele junge Leute nicht für Politik interessieren und zeigt auf, warum genau das so wichtig wäre.
Ich schlage die Augen auf: Der Wecker meines Handys spielt unaufhörlich diese unangenehme voreingestellte Melodie. Ich seufze, schalte den Wecker aus und entsperre mein Handy. Während ich zuerst Twitter und dann die Nachrichten-Apps meines Vertrauens öffne, reibe ich mir den letzten Schlaf aus den Augen. Was erwartet mich wohl heute? Was ist in den letzten acht Stunden wieder alles schief gegangen?
Ist ganz Deutschland wieder überrascht, dass eine weitere Handvoll rechtsextremer „Einzelfälle“ in Bundeswehr, Polizei oder Verfassungsschutz aufgetaucht sind? Oder ist der Klimawandel und mit ihm die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte einfach nur noch einen Tag näher gerückt?
Schon vor dem ersten Kaffee liege ich also da, dieses 4,7-Zoll-Fenster zum gesammelten Schmerz und Leid der ganzen Welt in meiner Hand. Selten gibt es etwas, über das ich mich freuen kann. Noch bevor ich aufstehe, ins Wohnzimmer gehe und das erste Wort des Tages mit einem lebendigen Menschen wechsle, entweichen mir in der Regel vier bis neun frustrierte Seufzer.
Doch ich wüsste nicht, was die Alternative ist: Ich kann mir Politik aus meinem Leben nicht wegdenken. Seit ich denken kann, diskutiere ich mit meinen Eltern, Freund*innen und Lehrer*innen über große politische Themen oder tagesaktuelle Nachrichten. Es ist mir wichtig, immer informiert zu sein.
Das Problem der unpolitischen Jugend
Genau deshalb fiel es mir schwer, einen Bezug zum Thema „unpolitisch sein“ zu finden. Um einen Einblick in die Argumentation und die Sichtweisen auf ein Leben ohne Politik zu bekommen, erstellte ich kurzerhand eine Umfrage in meiner Instagram-Story. Alle Ergebnisse gibt es hier ausführlich zum Nachlesen: Umfrage
Meine Umfrage bestätigt im Kleinen, was die renommierte Shell Jugendstudie in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext herausfand. Diese untersuchte unter anderem die Frage: „Wie stehen junge Menschen zu Politik, Gesellschaft und Religion?“. 2019 lieferte die Studie erschreckende Zahlen: Nur 8 % der Jugendlichen interessieren sich stark für Politik. Weitere 33 % beschreiben sich selbst als interessiert. Das heißt: Weniger als die Hälfte der jungen Menschen in Deutschland zeigen aktives Interesse für Politik. Der Teil, der sich engagiert, ist folglich noch einmal deutlich kleiner.
Privilegien verstehen und solidarisch sein
Politisch wie auch unpolitisch sein ist mit Privilegien verbunden. Über diese verfügen nicht alle Menschen in Deutschland oder gar auf der Welt in gleichem Maße.
Jeder Mensch ist in Deutschland vor dem Gesetz gleich. So steht es zumindest in Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes. Jedoch ist das mit systematischem Rassismus in Behörden und rechtsextremen „Einzelfällen“ in verschiedenen Institutionen, wie Verfassungsschutz, Polizei oder Bundeswehr, zwar ein schönes Versprechen, spiegelt aber nicht die Lebensrealität und Erfahrungen vieler Menschen in Deutschland wieder.
Privilegierte Menschen, sprich primär weiße Männer, sind wenig bis gar nicht von struktureller Diskriminierung und Rassismus betroffen. Daher gibt es für sie keinen existenziellen Grund, auf die Probleme in einem System aufmerksam zu machen, das für einen selbst hervorragend funktioniert. Schlechte Politik betrifft nicht zwangsläufig alle Menschen.
Ein Zitat aus dem neu erschienenen Netflix-Film „Elona Holmes“, welcher in einer von Männern dominierten Welt spielt, bringt das Ganze auf den Punkt: „You don´t know what it is to be without power. Politics doesn´t interest you. Why? Because you have no interest in changing a world that already suits you”
Die Realität in Deutschland bestätigt das. Mehr als 40 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund gaben in der Shell Studie an, im Alltag häufiger als andere benachteiligt zu werden.
Auf der anderen Seite ist es jedoch auch ein Privileg, die Zeit und die Kapazitäten zu besitzen, sich mit politischer Theorie, Parteien und Systemen auseinanderzusetzen. Dabei spielt die politische Bildung durch Schule und Eltern eine große Rolle. Auch das zeigt die Shell Studie: „Bezüglich der Bildungsposition der Jugendlichen liegt ein deutliches Gefälle vor. Jeder zweite Jugendliche, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, bezeichnet sich als politisch interessiert. Bei Jugendlichen mit angestrebtem oder erreichtem Hauptschulabschluss trifft dies hingegen nur auf jeden vierten zu.“
Information, das höchste Gut der Demokratie
Aus Unwissenheit leitet sich ein folgenschweres Problem ab: Man* wird anfällig für simple Antworten auf komplexe Fragen. Jene Antworten, die populistische Politik durch einfache Feindbilder liefert. Dass diese einfachen Antworten jedoch nur eine menschenverachtende Gesinnung verschleiern sollen, zeigen folgende Aussagen: „Wir können die [Migrant*innen] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst“ des Ex-AfD-Pressesprechers Christian Lüth. Ein weiteres Beispiel dafür liefert Marcel Grauf, Referent von Christine Baum (AfD) und Heiner Merz (AfD): „immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“ Mit einem derartigen Menschenbild bestätigt die AfD, dass eine konstruktive, demokratische Debatte mit ihr nicht zu führen ist.
Immer wieder legten Journalist*innen und der Verfassungsschutz klare Beweise vor, die der Partei ein menschenverachtendes Weltbild und eine antidemokratische Haltung nachwiesen. Dennoch versteht sich die AfD darin, sich selbst als Gegnerin des politischen Establishments zu inszenieren: Sie hetzt verallgemeinernd gegen Geflüchtete, „die Mainstream Medien“ und die von ihnen als „Altparteien“ diffamierten politischen Gegner*innen.
Informiert man* sich nicht über verschiedene Quellen, verfängt man* sich irgendwann in dieser Blase aus sich immer selbst bestätigenden Meinungen, die als seriöse Nachrichten getarnt in Facebook-Gruppen oder auf anderen Online-Portalen kursieren. Diffamiert man* zudem noch jegliche kritische Betrachtung des eigenen Weltbildes, als Propaganda der angeblichen „Lügenpresse“, fallen Ungereimtheiten im eigenen Weltbild nicht auf und es fällt schwer, einen weltoffenen Blick zu bewahren.
Während ich diese letzten Sätze schreibe, sehe ich der Sonne dabei zu, wie sie langsam hinterm Horizont verschwindet. Ich denke an all das, was ich an diesem Tag, in den letzten Stunden gelesen und gehört habe. Es macht keinen Spaß. Es gibt so viele Probleme und niemand kann sie alle alleine angehen. Mir wurde klar, dass es keinen Sinn ergibt, sich alles, was auf der Welt passiert, auf die eigenen Schultern zu laden. Auch kann ich inzwischen besser nachvollziehen, warum das viele Leute abschreckt. Ich verstehe den Impuls, Politik nicht in das eigene Leben zu integrieren. Doch die unangenehme Wahrheit ist, dass es in einer Welt mit so vielen Problemen, deren Last so ungleich verteilt ist, nicht reicht, einmal alle vier Jahre wählen zu gehen. Es kann auch nicht sein, bei politischen Diskussionen im persönlichen Umfeld jedes Mal zu schweigen und abzuwarten, bis es vorbeigeht.
Es ist nicht wichtig, ob wir immer bestens über die tagesaktuelle Politik informiert sind, aber bei den großen Themen ist es keine Option, keine Meinung zu haben. Dabei ist es egal, ob wir diese im Internet, in der Schule, Universität oder im Freundeskreis verteidigt. Demokratie lebt von Diskurs und eben jenen müssen wir führen.
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von sagwas.net und politikorange.de entstanden.