Sollten Medien die Nationalität von Straftätern nennen?

Manche Eilmeldungen enthalten Mutmaßungen, die Interessengruppen gezielt ausnutzen. Deswegen sollten TV-Sender und Zeitungen erst gar nicht über Vermutungen berichten, findet unsere Redakteurin Annick Goergen.

Foto: Jugendpresse Deutschland/Annkathrin Weis

 

Man stelle sich eine weiße Leinwand vor – das schier endlose Potenzial, welches diese leere Fläche bietet und die Möglichkeit, die eigenen Ideen und Vorstellungen darauf zu projizieren. Auch in der journalistischen Berichterstattung kann es solche Leerstellen geben. Doch während diese im Bereich der Kunst inspirierend wirken können, führen fehlende Informationen im Journalismus dazu, dass Leserinnen und Leser oder Zuschauerinnen und Zuschauer die Lücken mit eigenen Überzeugungen füllen.

Werden Informationen willentlich oder unüberlegt verschwiegen, entsteht Raum für Spekulationen. Ein Beispiel dafür ist der Fall des Amokfahrers in Münster im Frühjahr dieses Jahres: Am 7. April fuhr ein 48-jähriger Deutscher mit einem Campingwagen in eine Menschenmasse im Münsteraner Zentrum und erschoss sich anschließend selbst.

Die Information, dass es sich bei dem Täter um einen deutschstämmigen Mann handelte, ging aus der ersten Pressemitteilung der Polizei allerdings nicht deutlich hervor. Darin stand lediglich, dass der Mann in Münster ansässig gewesen sei. Diese Lücke nutzten Rechtspopulisten und ausländerfeindliche Gruppierungen. Aus einem Täter, über dessen Nationalität die Leser nur mutmaßen konnten, wurde ein Täter mit Migrationshintergrund und einem islamistischen Tatmotiv.

Immer unter Druck

Beatrix von Storch, Bundestagsabgeordnete der AfD, kritisierte daraufhin auf Twitter Merkels Flüchtlingspolitik, obwohl es zu dem Zeitpunkt noch keine Hinweise zum Tatmotiv oder ausführliche Informationen zum Täter gab. Der Tathergang war für von Storch Ursache genug, von einem islamistischen Terroranschlag auszugehen. Auch bei der Live-Berichterstattung wollten Kommentatoren, unter anderem beim Sender n-tv, einen Zusammenhang zwischen der Amokfahrt und der Flüchtlingskrise erkannt haben.

Dieser Fall bietet sich an, um ein aktuelles Problem bei der Berichterstattung und der Frage nach Pressefreiheit und Presseethik zu diskutieren. Durch die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft stehen Journalisten und Journalistinnen immer unter Druck, Nachrichten so schnell wie möglich zu verbreiten. Die Zeit für Recherche wird geringer und die damit verbundenen Wissens- und Informationslücken können willentlich von Rezipienten und Rezipientinnen zu eigenen Propagandazwecken genutzt werden.

Der Pressekodex, der 1973 zur Selbstregulierung der Presse eingeführt wurde, sieht die Journalisten und Journalistinnen in einer Sorgfaltspflicht: “Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.” Doch wäre es nicht nötig, sogar einen Schritt weiterzugehen? Nämlich Vermutungen erst gar nicht zu veröffentlichen und nur über Fakten zu berichten? Die Aufgabe der Presse ist es, Menschen zu informieren und Missstände aufzudecken. Mutmaßungen, wie die der erwähnten TV-Journalisten, sind weder informativ noch tragen sie zum gesellschaftlichen Diskurs bei.

Unnötige Fokussierung auf Nationalitäten

Wie man durch die Änderung des Pressekodexes vor einem Jahr erkennen kann, hat sich der Presserat bereits mit der Frage nach einer möglichen Diskriminierung von Personen mit Migrationshintergrund befasst. Mit dem Ergebnis: “Die Zugehörigkeit [zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten] soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.” Dieses Vorgehen könnte jedoch das Entstehen von Lücken begünstigen.

Die Nationalität eines Straftäters oder einer Straftäterin ist in den meisten Fällen nur dann von öffentlichem Interesse, wenn diese das Tatmotiv erklärt. Handelt es sich bei dem Verbrechen beispielsweise nicht um eine rechtsradikale Tat, ist die Erwähnung der Nationalität eines deutschen Verbrechers meist irrelevant. Obschon das Gleiche auch für ausländische Straftäter und Straftäterinnen gelten sollte, wird deren Nationalität in der Berichterstattung häufiger erwähnt als bei deutschen.

Die inkonsequente Erwähnung der Nationalitäten von Tätern und Täterinnen kann eine unnötige Fokussierung auf diesen Aspekt zur Folge haben. Das Resultat: die Stigmatisierung von Nationalitäten. Zudem könnte der Anschein erweckt werden, dass es unverhältnismäßig viele Täter und Täterinnen mit Migrationshintergrund gibt. Dies könnte das Misstrauen gegenüber Minderheiten befeuern.

Den Wind aus den Segeln nehmen

Um gegen eine mögliche Diskriminierung von Minderheiten vorzugehen und für Gleichberechtigung innerhalb der Berichterstattung zu sorgen, wäre eine konsequente Nennung der Nationalitäten aller Straftäter und Straftäterinnen sinnvoll. Auf diesem Weg könnte außerdem verhindert werden, dass sich die Leser und Leserinnen um Informationen betrogen fühlen und das Vertrauen in die Presse verlieren. Im Zeitalter des Internets verbreiten sich Informationen mit hoher Geschwindigkeit. Entscheiden sich Journalisten und Journalistinnen dafür, die Nationalität eines Täters nicht zu veröffentlichen, garantiert dies nicht, dass die Nationalität des Täters oder der Täterin nicht auf einem anderen Weg an die Öffentlichkeit gelangt. Dadurch könnte die Frage nach dem Grund für das Verschweigen aufkommen.

Dieser Lösungsansatz würde außerdem verhindern, dass Journalistinnen und Journalisten Selbstzensur üben. Sie wären dazu angehalten, den Informationsgehalt ihrer Berichterstattung zu verdichten und Nationalitäten grundsätzlich zu nennen. Leere Räume könnten dann nicht als Projektionsflächen genutzt werden. Das würde auch rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Gruppierungen den Wind aus den Segeln nehmen.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Yalla Media Akademie, eine Kooperation zwischen der Jugendpresse Deutschland und dem Verein Eed be Eed (“Hand in Hand”) aus Berlin. Der Text erschien zuerst in der Printausgabe des Weser-Kuriers.

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