Ukrainer Michael flieht mit seiner Familie vor dem Krieg als er 17 Jahre alt ist. Mittlerweile ist er 18 und fragt sich, ob er gerade nicht lieber in seiner Heimat sein sollte.
„Ich könnte mir jeder Zeit ein Ticket kaufen und nach Kiew fahren“, sagt Michael in einem überfüllten Café in Berlin-Charlottenburg. Seit der Ukrainer 18 Jahre alt ist, lebt er in einem ständigen Konflikt. Mit der Volljährigkeit kommen Schuldgefühle. Das Gefühl, seiner Heimat Unterstützung schuldig zu sein, ihr nicht den Rücken zu kehren, sondern dort sein zu müssen.
Er sagt, Geschichten wie seine gibt es zigfach. Viele junge Ukrainer flohen als Minderjährige und sind mittlerweile volljährig. Nun stehen sie vor der Entscheidung, ob sie wieder in die Ukraine zurück gehen oder im sicheren Ausland bleiben. Michael ist sich uneinig. Häufig fragt er sich, ob es ihn zu einem Verräter macht in Deutschland zu bleiben.
Das Zurücklassen der Heimat
Als Putin und seine Soldaten die Ukraine im vergangenen Februar überfallen, war Michael 17 Jahre alt. Mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester flieht er nach Deutschland. Sein Vater und seine Großmutter bleiben in Kiew.
Bereits im Kindesalter lernt Michael Deutsch, denn seine Mutter hat einen Plan: Zum Studieren soll ihr Sohn später mal nach Deutschland. Eigentlich hat Michael darauf keine Lust. Er will lieber in Kiew bleiben. Dass er auf diesem Weg nun doch nach Deutschland kommt, war nicht so vorgesehen.
Bevor Michael 18 wurde, besuchte er die Ukraine noch zweimal. Angst hatte er in der von Krieg geplagten Heimat nicht. Er war froh, Freunde und Familie wieder zu sehen, endlich wieder in Kiew zu sein. Seit dem Eintritt in die Volljährigkeit sind Besuche jedoch nicht mehr so leicht. Zwar hat er als Schüler keine Mobilisierung zu befürchten, doch die Sorge nicht wieder ausreisen zu können, ist zu groß. Seiner Heimat bleibt er seither fern.
In Berlin besucht Michael ein Studienkolleg. Mit zwei ukrainischen Klassenkameraden tauscht er sich über die Heimat aus. Einer der beiden will unbedingt zum Kämpfen an die Front. Er habe mit seinen Eltern bei einem Kartenspiel gewettet. Wenn er gewinnt, darf er gehen. Gewinnen die Eltern, muss er in Deutschland bleiben. Er verliert das Spiel und bleibt vorerst hier, erzählt Michael.
Im Café ist es laut. Menschen strömen ein und aus, Kinder spielen und rennen umher, aber Michael lässt sich nicht ablenken. Nur als sein Telefon klingelt – seine Mutter – wird er kurz nervös. Sie sprechen miteinander und als sie auflegen, steigt er sofort wieder in seine Erzählung ein.
„Die Ukraine muss gewinnen!“
Michael zieht einen Kühlschrankmagneten aus seiner Hosentasche: die Siegesgöttin Nike. Ein Mitbringsel aus friedlicheren Zeiten. Eine Erinnerung, die ihn traurig macht. „Die Ukraine muss gewinnen,“ sagt er mit ernstem Blick. Der Magnet stammt vom Kühlschrank der Familie in Kiew. Auf zahlreichen Reisen sammelten sie früher gemeinsam diese Andenken. Zu Hause wurden sie sorgsam am Kühlschrank aufgehängt. Die Tür zu öffnen, ohne dass ein Magnet runterfällt, war fast unmöglich, erinnert sich Michael. Ein paar dieser Magneten nimmt die Familie bei der Flucht nach Deutschland mit, andere schickt der Vater per Post nach. So fühlt sich die enge Wohnung in Berlin wenigstens ein bisschen nach zuhause an.
Michael plant, in Berlin Geistes- oder Sozialwissenschaften zu studieren. Der 18-Jährige begeistert sich vor allem für Geschichte. Er ist dankbar für die Gastfreundschaft und fühlt sich im multikulturellen Berlin wohl. Doch trotz seiner Pläne für ein Leben in Deutschland wird klar: Hier bleiben will der junge Ukrainer eigentlich nicht. Michael will nach Hause, in die Ukraine, nach Kiew. Im Gepäck den Magneten der Nike. Wenn sie wieder in Michaels Wohnung in Kiew einzieht, zieht auch Frieden in der Ukraine ein. Und in Michaels Leben.