Es ist der 8. Mai. Am Eingangstor der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen prangt die nationalsozialistische Inschrift „Arbeit macht frei“, ein paar verwelkte Blumen hängen zwischen den eisernen Buchstaben. Auf dem riesigen, kahlen Gelände wehen die wenigen Bäume sanft im Wind, aus einem kleinen Lautsprecher ertönen leise die Namen der Opfer, die in dem Konzentrationslager ermordet wurden. Ansonsten ist es totenstill.
Zwischen 1936 und 1945 waren über 200.000 Menschen in dem Konzentrationslager inhaftiert. Als Modell- und Ausbildungslager in unmittelbarer Nähe zur Reichshauptstadt nahm Sachsenhausen nicht nur eine symbolische Stellung ein, sondern fungierte auch als administratives Zentrum des gesamten KZ-Systems im Nationalsozialismus.
Auch 80 Jahre nach der Befreiung zeugt der Ort noch von dem unvorstellbaren Leid, das den Menschen hier widerfahren ist. Wer durch die Gedenkstätte geht, spürt die Vergangenheit bei jedem Schritt. Doch gerade junge Menschen begegnen der Geschichte zunächst meist online – über Stories, Posts und Reels. Rund um den Jahrestag widmen sich zahlreiche Beiträge auf Social Media der Aufarbeitung und Sichtbarmachung nationalsozialistischer Verbrechen. Aber kann ein Instagram-Reel so berühren wie der Besuch einer Gedenkstätte?
„Für die gesamte historisch-politische Bildungsarbeit ist vor allem eines wichtig: Empathie. Und Empathie kann auch über ein kurzes Reel auf Instagram oder ein langes Video auf YouTube erzeugt werden“, erklärt Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Die Gedenkstätte nutzt die Plattformen seit einigen Jahren als Ergänzung zu den herkömmlichen Methoden der historisch-politischen Bildungsarbeit. Social Media könne zwar Anreize schaffen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, aber niemals die Arbeit von Gedenkstätten und Museen ersetzen, betont Tuchel allerdings.
„Ein historischer Ort ist natürlich deutlich eindringlicher und berührender als es ein Video je sein kann – aber das ist auch gar nicht der Anspruch unserer Beiträge“, erklärt Till Strätz von der Mahn- und Gedenkstätte in Sachsenhausen. Auch wenn Überspitzung und Emotionalisierung durch die Algorithmen der Plattformen besonders gut funktionieren, sollen die Beiträge vor allem zum Nachdenken anregen und Interesse an einen Besuch wecken. Auf dem Instagram-Account der Gedenkstätte sind neben kurzen Informationsvideos deshalb auch Hinweise auf Veranstaltungen und Einblicke in die Arbeit hinter den Kulissen zu finden.
Was früher Bücher, Schulen und Museen leisteten, übernehmen heute zunehmend Instagram,
YouTube und TikTok. Vor allem jüngere Generationen nutzen soziale Medien längst nicht mehr nur zur Unterhaltung, sondern zunehmend auch als Hauptinformationsquelle. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Leibnitz-Instituts für Medienforschung. Gleichzeitig steigt dadurch die Gefahr von Fake News und gezielter Desinformation sowie der Verzerrung und Vereinnahmung von rechts. „Darum ist es umso wichtiger, dass glaubwürdige Inhalte von vertrauenswürdigen Institutionen wie zum Beispiel Gedenkstätten und Museen produziert werden“, sagt Tobias Ebbrecht-Hartmann. Als Dozent für Filmgeschichte, deutsche Kulturgeschichte und Erinnerungskulturgeschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem forscht und publiziert er unter anderem zu digitaler Erinnerung an den Holocaust.
Die sozialen Netzwerke haben nicht nur das ‚Wie’, sondern auch das ‚Was’ der Gedenkarbeit grundlegend verändert. So erzeugen kurze Videos nicht nur Aufmerksamkeit für bestimmte Themen, sondern schaffen auch Raum für bislang unsichtbare Perspektiven. „Das führt dann auch dazu, dass andere Themen und Opfergruppen eine Rolle spielen. Mich erreichen zum Beispiel immer wieder Fragen zu queeren Menschen im Nationalsozialismus“, berichtet Susanne Siegert. Die Aktivistin hat auf ihrem Instagram-Account @keine.erinnerungskultur knapp 160.000 Follower:innen, auf TikTok sind es sogar 215.000. Um auf den Plattformen nicht wie ein Fremdkörper zu wirken, sei es besonders wichtig, den jungen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihre Fragen ernst zu nehmen. „Wenn man ein paar Kniffe beachtet – und die kann man sich auch gut vom Spaß-Content abschauen – dann funktioniert Gedenk- und Erinnerungskultur auch auf diesen Plattformen“.