„Es ist die Gesellschaft, die die Behinderung schafft“

Als Behinderter fühle ich mich in Deutschland oft abgehängt. Eine Studie zeigt: Auch im internationalen Vergleich steht Deutschland im Hinblick auf Barrierefreiheit schlecht dar. Das Grundgesetz sei eher so eine Art Idealbild, seine Umsetzung noch sehr problematisch, sagen Behindertenrechtsaktivisten. Manchmal frage ich mich: sieht das Grundgesetz die Bedürfnisse von Behinderten überhaupt? Ein Kommentar. 

 Ein Rollstuhl  steht angekippt mit den Vorderrädern an den untersten Stufen einer Treppe.
Symbolbild ©Mihanta Friedrich.

Die offizielle Begrüßung des Jugendmedienworkshops ist sehr gut vorbereitet. Es gibt ein Buffet, ausgestattet mit äußerst verlockend riechendem Essen, einen Tontechniker für die angekündigte Rede, Mitarbeiter:innen zum Abräumen und Eindecken, und mit hübschen Blumenvasen dekorierte Stehtische. Ich gerate ins Stocken. Es gibt nur Stehtische?!

 Am Telefon wird gesagt, natürlich sei das Restaurant barrierefrei. Man stelle gerne einen Stuhl weg, sei sehr hilfsbereit und ich sei natürlich sehr herzlich willkommen. Wir reisen in freudiger Erwartung auf ein gutes, italienisches Abendessen an, stehen vor dem Restaurant, ich gerate wieder ins Stocken. Es gibt nur eine Treppe?! 

Es sind oft Kleinigkeiten, die mich als Rollstuhlfahrer daran hindern, regulär am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Seien es Stehtische, unter denen man verschwindet, Treppen, vor denen man stehenbleibt, kaputte Aufzüge, die den Zugang zur U-Bahn verwehren, und so viel mehr.  Beide Situationen wurden glücklicherweise schnell und unspektakulär gelöst. Dennoch stehen Situationen wie diese beide geradezu metaphorisch für das Leben als Behinderter in Deutschland. Bedacht werde ich erst, wenn ich ankomme und mich beschwere. Sehr oft denke ich Sätze wie „Da haben die wohl nicht mitgedacht“, „Das hat wohl jemand vergessen“, oder ähnliche. Solche Gedanken sind bedrückend, und ich muss sie viel zu oft denken, denn als Behinderter in Deutschland fühle ich mich oft vergessen und nicht mitgedacht. 

Oft frage ich mich sogar: Habe ich in der Realität alle mir theoretisch zustehenden Grundrechte? Meine Freizügigkeit fühlt sich durch mangelnde Barrierefreiheit eingeschränkt; Anrufsammeltaxis nehmen beispielsweise per se keine Rollstuhlfahrer:innen, was einige ländliche Orte für mich gar nicht oder nur äußerst schwer erreichbar macht. Auch die freie Berufswahl fühlt sich für mich nicht frei an – wie viele Jobchancen wohl schon Rollstuhlfahrer:innen aufgrund mangelnder Barrierefreiheit am Arbeitsplatz verwehrt wurden? Und – ganz elementar: ist Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes für Behinderte überhaupt erfüllt? Er besagt ganz grundsätzlich: „[…] Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und wie sehen das eigentlich Menschen, die nicht im Rollstuhl sitzen, sondern andere Behinderungen haben? 

Deutschland ist im internationalen Vergleich nicht gut genug 

Detaillierter als Artikel 3, Absatz 3 ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die in 50 Artikeln die Grundrechte von Behinderten zusammenfasst.1 Im Grunde sind es die Rechte, die auch schon im Grundgesetz für alle Menschen formuliert wurden – hier sind sie nun noch einmal für Menschen mit Behinderungen bekräftigt. Dr. Fiona MacDonald untersuchte in ihrer Studie an 13 ausgewählten Ländern, inwieweit die Rechte der UN-Behindertenrechtskonvention in diesen Ländern wirklich umgesetzt wurden. Es stellt sich heraus: Die meisten Rechte werden im internationalen Vergleich in den untersuchten Ländern eher halbwegs umgesetzt. Positiv ist: Manche Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Habilitation und Rehabilitation werden beinahe flächendeckend umgesetzt. Negativ fällt aber vor allem auf: Andere Grundrechte stehen fast überall sehr schlecht dar, darunter das Recht auf Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch. 

Deutschland belegt unter 13 untersuchten Ländern den zehnten Platz, knapp gefolgt von Spanien, Südkorea und Australien. Vorne liegen – und das mit einem deutlich größeren Abstand Neuseeland, Ecuador und die Mongolei. Deutschland ist dabei in Sachen Barrierefreiheit nie richtig schlecht, aber auch nie richtig gut. Und im internationalen Vergleich schon gar nicht.2  „Nie richtig schlecht“ reicht aber leider nicht, wenn „nie richtig gut“ daneben steht. 

Fordern, nicht wünschen, führt zum Ziel – und klagen 

Das anfangs erwähnte Restaurant hat – wie fast jedes Restaurant, deutschlandweit – selbstverständlich, könnte man fast schon sagen, keine Behindertentoilette. Ich öffne die App „Wheelmap“, etwas mehr als hundert Orte werden mir in meinem Umkreis angezeigt. Ich filtere nach Orten mit Behindertentoiletten. Nur ein gutes Dutzend Orte bleibt. Nur ein gutes Dutzend Orte, an denen ich Getränke ohne Sorgen um meinen Toilettengang genießen kann. Das ist die Realität, wenn man in Deutschland, insbesondere nachdem Geschäfte und Cafés geschlossen haben, nach barrierefreien Toiletten sucht. Ich habe schon mehrfach in Innenstädten in Gebüsche uriniert.  

Initiator der App Wheelmap ist der Behindertenrechtsaktivist Raúl Aguayo-Krauthausen. „Wahrscheinlich ist das Grundgesetz eher so eine Art Idealbild, und die Umsetzung ist dann oft die, die noch sehr problematisch ist“, sagt er im Interview. Behinderte seien in Deutschland immer noch nicht in der Mitte der Gesellschaft zu sehen. Sie lebten oft ein Leben abseits des nichtbehinderten Alltages; gehen auf Förderschulen, wohnen in Wohnheimen und werden von Fahrdiensten von A nach B gefahren. So entstehe keine Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion bei Nichtbehinderten oder nur eine sehr langsame. „Ich bin da ungeduldig“, so Krauthausen. Der allgemeine Arbeitsmarkt und die Regelschulen müssten sich viel schneller mit dem Thema auseinandersetzen. 

Aufgrund dieser fehlenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung lebe man sich ein, arrangiere sich, wisse, welche Stationen keinen Aufzug haben. Man finde sich ab mit den Einschränkungen der Rechte, die man erlebt. Auch, sagt Krauthausen, weil es keine Möglichkeit gebe, sich zu wehren – es gebe im Grundgesetz (aber auch sonst nirgendwo) kein Recht auf Barrierefreiheit, das man sich einklagen könnte. Das wäre zielführend – das sieht man beispielsweise in den USA3 –, aktuell brauche man in Deutschland aber sehr viel Kraft und Anstrengung, um sein Recht durchzusetzen, vorausgesetzt, man schafft es überhaupt. Krauthausen fordert, dass man sich die Grundrechte als Behinderter einklagen können muss. Die Betonung liegt dabei auf „fordert“ – als ich ihn frage, was er sich in Bezug auf Barrierefreiheit in Deutschland wünsche, sagt er, als Aktivist wünsche er sich nichts – er fordere. 

„Wäre ich nicht so kampfbereit, dann hätte ich einfach nichts erreicht“ 

Während ich gerade einem Teilnehmer unserer Führung durch den deutschen Bundestag davon erzähle, dass selbst Regionen, die eine im Vergleich zu Deutschland durch schwere Probleme gezeichnete Infrastruktur haben, es schaffen, jede Pressekonferenz mit einer:m Gebärdensprachendolmetscher:in auszustatten, Deutschland jedoch nicht, geht die Guide eine Treppe hoch, ohne mir eine barrierefreie Alternative aufzuzeigen – sie hat mich vergessen. Ich bleibe unten an der Treppe stehen. 

Mit ein paar Teilnehmer:innen habe ich selbst den Weg zurück zur restlichen Gruppe der Bundestagsführung gefunden. Die Guide entschuldigt sich dafür, mich an der Treppe vergessen zu haben. Alles gut, sage ich. Natürlich sage ich das, ich will ja nicht unhöflich sein. 

Wir sitzen im Plenarsaal und bekommen erklärt, welche Partei wo sitzt, was im Plenum ausgemacht wird. Ich höre mit einem halben Ohr zu, schaue jedoch eigentlich eher interessiert auf das, was unten im Plenarsaal geschieht – denn wir haben das Glück, gerade dann den Saal zu besuchen, wenn Heike Heubach (SPD) ihre erste Rede im Deutschen Bundestag probt. Das ist bei ihr ein größerer Akt als bei anderen Politiker:innen – Heubach ist gehörlos und redet daher in Gebärdensprache. Während sie am Redner:innenpult steht und gebärdet, übersetzt eine Dolmetscherin ihre Rede in gesprochenes Deutsch. Das ist für den Deutschen Bundestag leider ein Novum und muss daher einmal geprobt werden. Heubach ist froh, im Bundestag zu sein: Weniger für sich persönlich als mehr für die behinderte Community. Auch behinderte SPD-Mitglieder haben sie schon angesprochen und sich darüber gefreut, dass sie Behinderung in der SPD sichtbarer macht. Und auch ich freue mich sehr über eine behinderte Abgeordnete im Bundestag. 

Heike Heubach steht am Redner:innenpult des Deutschen Bundestages, einige Personen stehen um sie herum. Das Bild wurde von der Zuschauertribüne aus gemacht.
Heike Heubach (am Redner:innenpult) probt für ihre erste Rede im Bundestag. ©Mihanta Friedrich

Ich treffe Heike Heubach mit ihren zwei Dolmetscherinnen im Paul-Löbe-Haus. Man gewöhnt sich schnell an die Art der Gesprächsführung – ich sitze ihr gegenüber, wir unterhalten uns, der „Sound“ kommt dabei aus dem Hintergrund von der Dolmetscherin. Sofort tauschen wir uns über unsere Erfahrungen mit unseren Leben mit Behinderungen aus, und, obwohl Heubach eine ganz andere Behinderung hat als ich, fällt mir auf, dass sie sehr viele Dinge erlebt hat und sagt, die ich exakt so bestätigen kann. Oft fällt das Wort ‚kämpfen‘: „Wäre ich nicht so kampfbereit, dann hätte ich einfach nichts erreicht“, so Heubach. Sie zitiert Brecht: „Wer kämpft, kann verlieren, aber wer nicht kämpft, der hat schon verloren“. Der Kampf ist eine harte Metaphorik, aber keine unübliche: Auch ich benutze das Wort, wenn ich erzähle, dass ich oft für mich kämpfen musste. Für barrierefreie Unterbringung auf der Klassenfahrt. Dafür, im Zug mitgenommen zu werden. Dafür, auf Toilette gehen zu können. Nicht immer werden diese Kämpfe gewonnen. 

Das Problem, sagt Heubach, ist die Gesellschaft: „Es ist die Gesellschaft, die die Behinderung schafft“. Das beginne ganz früh im Leben: Schon im Kindergartenalter werden Behinderte separiert; sie gehen oftmals in Schulen speziell für Behinderte, weswegen Nichtbehinderte kaum in Kontakt mit Behinderung kommen. Als Heubach in den Wahlkampf zog, musste sie Gespräche sehr oft nicht etwa über politische Inhalte führen, sondern Aufklärungsarbeit leisten. Denn selbst Erwachsene haben oft praktisch kein Wissen über Behinderungen. „Die Gesellschaft [hat] keine Ahnung“, sagt Heubach.  

Das ist ein Problem: Die Mehrheitsgesellschaft weiß zu wenig über Behinderung. Auch hat sie keine Erfahrung mit Diskriminierung gemacht – und das zeigt sich: Queere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund achten mehr darauf, Behinderte nicht zu diskriminieren, weil sie selber damit Erfahrungen gemacht haben, so Heubach. 

Doch auch infrastrukturell könnte es in Deutschland deutlich besser sein. Heike Heubach stimmt mir zu, dass in Deutschland in den vergangenen Jahren viel zu wenig getan wurde. Ich frage sie: Wieso hat die SPD, nunmehr seit 11 Jahren durchgehend in Regierungsverantwortung, denn so wenig getan? Das liege daran, dass Koalitionen gebildet werden und dabei Kompromisse gefunden werden müssen, so Heubach. Dabei würden oft Abstriche gemacht werden müssen. Doch auch in der SPD sei nicht alles perfekt: Auf Parteitagen fehlen Heubach oft Dolmetscher:innen, die zwar anwesend sind, aber nur auf der Bühne stehen: Keine Möglichkeit für Privatgespräche. Sie wolle aber darauf achten, dass das Thema in Zukunft bei der Regierungsbildung nicht mehr hinten runterfalle. Und sie will sich für eine Grundgesetzänderung aussprechen: Der Satz „Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden“ müsse um einen Nachsatz ergänzt wird, der besagt, dass alle Menschen inkludiert werden müssen. So blieben laut Heubach deutlich weniger Hintertürchen offen, Inklusion zu vermeiden, und würde sie auch einklagbarer machen. 

Viel zu tun

Aus verschiedenen Winkeln habe ich auf das Thema Inklusion bzw. ihren Mangel in Deutschland geblickt. Die Meinungen sind größtenteils einheitlich: Raúl Krauthausen sagt das, was die Studie bestätigt, Heike Heubach spiegelt meine Erlebnisse wider und alle sagen: Es muss sich viel ändern. Deutschland liegt maximal im unteren Mittelfeld, und das spürt man. Im Urlaub in Ländern, die inklusiver sind, im Bundestag, auf dem Arbeitsmarkt, in der U-Bahn.  

Beim zweiten Empfang des Jugendmedienworkshops gab es dann tatsächlich sofort einen niedrigen Tisch mit ein paar Stühlen. Das lässt mich hoffen, dass sich die Lage bessert. Ich frage mich, ob ich je die breite gesellschaftliche Veränderung sehen werde, von der wir träumen. Von der ich träume, von der Raúl Krauthausen träumt und von der Heike Heubach träumt. Vielleicht lässt sie sich durch staatliches Eingreifen herbeiführen, durch die Methoden, die Krauthausen, Heubach und so viele andere, die nicht in diesem Artikel stehen, vorschlagen. Manchmal muss man die Gesellschaft zu ihrem Glück zwingen. Doch dafür müsste die Politik erst einmal daran denken, dass das überhaupt im Bereich des Möglichen liegt. Es ist die Gesellschaft, die die Behinderung schafft. Es könnte die Gesellschaft sein, die die Behinderung wieder abschafft.  


Dieser Beitrag ist im Rahmen des Jugendmedienworkshops 2024 entstanden. Das Projekt wird von der Jugendpresse Deutschland, dem Deutschen Bundestag und der Bundeszentrale für politische Bildung organisiert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.