Zohra weiß, wie sich die Blicke der Taliban anfühlen. Vor mehr als zwei Jahren ist sie aus Afghanistan nach München geflohen, um dem rigorosen Regime zu entkommen, und hat dabei ihre Familie zurückgelassen. Die junge Frau erzählt vom schlimmsten Moment ihres Lebens, erklärt, warum Deutschland sich trotz der neuen Freiheit noch nicht wie ihr Zuhause anfühlt und weshalb Vögel ihrer Meinung nach feministischer sind als Menschen. Ein Portrait.
Es ist der 15. August 2021. Zohra, ihre Mutter und vier ihrer Schwestern sitzen nachmittags im Wohnzimmer ihrer Mietwohnung auf dem Teppich und schauen fern. Bilder von Männern in Gewändern und schwarzen Kopfbedeckungen nehmen den Bildschirm ein. Mit Sturmgewehren bewaffnet, rollen sie in ihren Trucks durch die Städte. Es ist überall in den Nachrichten zu sehen: Die Taliban haben in Afghanistan die Macht übernommen. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani ist zurückgetreten und ins Ausland geflohen.
Zohra erlebt den schlimmsten Moment ihres Lebens. Sie ist schockiert, kann es nicht fassen. Ihr erster Gedanke: „Ich darf nicht mehr in die Schule gehen. Und auch nicht Fahrradfahren“. Die tonnenschweren Autos der Taliban kommen im Fernsehen immer näher. Gleichzeitig fühlt es sich für Zohra so an, als würde sich ihr kostbarstes Gut, die Freiheit, immer weiter von ihr entfernen.
Vier Tage später steht die 18-Jährige am Flughafen Kabul – hinter ihr ein Stacheldrahtzaun, vor ihr ein Meer aus Menschen, die alle ein Ziel haben: raus aus Afghanistan. Die Sicherheitskräfte versuchen, die Menschenmassen mit Tränengas zurückzudrängen. Dabei fällt Zohra in Ohnmacht und bleibt am Stacheldrahtzaun hängen, sodass ihr Hemd reißt. „Zum Glück war es nur mein Hemd“, sagt sie. Ihr Blick geht, während sie davon erzählt, kurz ins Nichts, bis sie sich mit einem Lachen zurück in die Wirklichkeit holt.
Ich habe zwei Wochen lang geweint.
Heute lebt die junge Afghanin in München. Sie ist dankbar, dass sie nie aufgegeben hat. Auch nicht in Momenten wie damals am Flughafen, als sie kurz mit dem Gedanken gespielt hat, doch in Afghanistan zu bleiben. Ihr Begleiter, ein Kollege der Hilfsorganisation „Abasha“, hatte sie damals gefragt: „Willst du in diesem Gefängnis leben?“. Diese Frage hatte sie umgestimmt. Sie hatte an das Fahrradfahren gedacht, an Bildung, an Selbstbestimmung. An Freiheit. Bei Zohra führen alle Wege in die Freiheit. Ihre Lieblingsfarbe ist Blau. Blau wie der Himmel. „Wenn ich in den Himmel schaue, dann sehe ich da keine Barriere. Ich sehe Vögel, die frei fliegen“, erklärt sie.
Am besten ließe sich die Weite des Himmels bei einem Spaziergang im Englischen Garten genießen. Allein unterm blauen Himmel zu flanieren, das mache ihren Kopf frei. So könne sie wieder klar denken. Und Denken ist für sie eine Art Hobby. Denken hat sie gerettet, als ihre Traumata sie voll im Griff hatten. „Das ist vielleicht schwer zu glauben, aber ich habe nach meiner Ankunft in München zwei Wochen lang ununterbrochen geweint“, erzählt Zohra fast sachlich und mit fester Stimme. In ihren Gesichtszügen lässt sich keine Trauer ablesen. Nicht mehr.
Die erlebten Traumata hat sie zusammen mit einer Therapeutin verarbeitet. Und zusammen mit ihren Gedanken. Denn Trauer geht sie pragmatisch an: Sie fragt sich, was die Ursache ist. Ist die Frage geklärt, überlegt sie sich, was sie konkret dagegen tun kann. Und dann tut sie das. Ganz logisch. Zohra beschließt, das Gute in ihrer Situation zu sehen und das unveränderliche Schlechte hinzunehmen. Sie ist ihrem Motto „Go with the flow“ treu geblieben, das in dicken Lettern auf ihre Tasche gedruckt ist und sie daran erinnert: Mit Problemen muss man eben klarkommen.
Freunde finden im Land der Sandkastenfreunde
Nun liegt ihr in Deutschland die Freiheit zu Füßen. Oder zumindest in der Nähe, irgendwo in den Tiefen des Bürokratie-Dschungels versteckt. Dort hat sie sich mühevoll durchgeschlagen, beispielsweise um sich ihren Aufenthaltstitel zu erkämpfen. Ihr erschlossen sich Möglichkeiten, die ihre Familie in Afghanistan nicht hat. Ihre Nichte hat in Afghanistan die sechste Klasse absolviert. „Was passiert jetzt? Muss sie heiraten? Eine Familie gründen?“, fragt Zohra. Sie scheint auf eine Antwort zu warten. Doch da liegt nichts als Hilflosigkeit und einem Hauch schlechten Gewissens in der Luft, weil sie ihre Familie zurückgelassen hat.
Neben den zahlreichen Möglichkeiten warten in Deutschland viele neue Menschen auf sie. Das mit dem Freunde-Finden sei aber gar nicht so einfach. Zumindest nicht in Deutschland. Hier hat sie gelernt, alleine glücklich zu sein. „Deutsche sind nicht so offen gegenüber anderen Menschen“, sagt sie und meint mit „anderen Menschen“ Ausländer*innen. In Afghanistan sei das nicht so. Man könne sehr schnell echte Freundschaften schließen. „Deutsche bevorzugen Sandkastenfreunde“, stellt Zohra fest. Sie integriert sich, erwartet aber auch, dass gegenseitiges Interesse für die Kultur und Verständnis herrscht. Mittlerweile habe sie zwar Bekannte getroffen. „Dost“ heißt das auf Afghanisch. Aber einen „rafiq“, also eine*n Freund*in hat sie hier noch nicht. Bei einem „rafiq“ fühlt man sich zuhause, das sei der Unterschied.
Ihre Freunde sollten sie verstehen, ihr Tipps geben und aktiv sein. Denn Zohra war immer aktiv. Heute arbeitet sie beim gemeinnützigen Verein „Migration macht Gesellschaft“ und engagiert sich im Vorstand des Jugendverbands „heimaten-Jugend“. Sie will anderen helfen. Dabei ist ihr vor allem der Bereich Migration wichtig, weil sie weiß, wie es sich anfühlt, fremd zu sein. Als sie auf der Flucht war, habe sie Hilfe erhalten. Diese möchte sie jetzt zurückgeben.
Endlich Frei-Sein
Ihrem Bruder kann sie nicht helfen. Der ist schon vor 2021 aus Afghanistan nach Indonesien geflohen. Dort bekommt er keinen Aufenthaltstitel, kann folglich nicht arbeiten und lebt von den 100 Euro, die Zohra ihm jeden Monat schickt. Dabei hat sie selbst nur die 450 Euro ihres Minijobs und bekommt lediglich ein bisschen Hilfe vom Staat. „Ich hatte immer Angst, dass mein Bruder Suizid begeht, das sieht man häufiger in den Nachrichten, weil es so schwierig ist, Flüchtling zu sein“, erzählt sie. Ihre Stimme stolpert, sie fängt sich aber schnell wieder.
Trotz alledem habe er in Indonesien eine bessere Lebensqualität als in Afghanistan. Schließlich gäbe es dort keine Taliban. Zohra nennt sie Angstmacher. Oder: die Männer, vor denen man einfach weg möchte. Denn das seien Menschen, die alles mit einem machen können, weil sie ihre eigenen Regeln haben. Vor ihnen sei sie schutzlos gewesen – quasi vogelfrei. In Indonesien gäbe es auch keine Explosionen auf den Straßen. Die hat Zohra vor der Machtübernahme der Taliban ohne ihren Bruder erleben müssen: „Wenn man sein Zuhause verlassen hat, wusste man nicht, ob man wieder zurückkehren wird“, erklärt sie. Nach der Machtübernahme hat Zohra ihr Zuhause gar nicht mehr verlassen. Deshalb liebt sie die Freiheit. Weil sie so lange eingesperrt war. Und deshalb geht sie so gerne an ihre Grenzen. Weil sie es kann. Weil in Deutschland keine Steine fliegen, sondern höchstens Kritik. Ihr Fahrrad hat ihr das Frei-Sein beigebracht.
Diese Freiheit fand sie in München erst wieder im Skatepark. „Ich habe dort kleine Kinder gesehen, die hingefallen sind, aber nicht geweint, sondern gelacht und weitergemacht haben“, erinnert sie sich. Das tut sie auch, immer weitermachen. Schließlich hat sie ein Ziel vor Augen. Sie will Chirurgin werden. Auch wenn die Noten zurzeit noch nicht ganz stimmen. Sie geht in den Vorbereitungskurs vor der elften Klasse der Fachoberschule und hält es nicht für unmöglich ist, dass sich ihr Noten noch verbessern. „Das schaff ich schon“, sagt sie und ist überzeugt.
Sie schaut in den grauen November-Himmel, wo hinter der dichten Nebeldecke Grenzenlosigkeit zu herrschen scheint. „Wenn ich Vögel am Himmel sehe, möchte ich auch fliegen. Die sind freier als wir und haben auch keinen Sexismus“, sagt sie. Aber dann gewinnt die Realistin in ihr die Oberhand: „Vögel sind zwar frei, aber haben trotzdem auch Probleme. Außerdem müssen die ja auch mal landen.“ Es fängt an zu schneien und Zohra zittert. Lächelnd verabschiedet sich sie, sie müsse noch lernen. Zuhause warten ihr Fahrrad und ihre Freiheit.
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