Wenn eine Demokratie funktionieren soll, müssen möglichst viele Menschen mitmachen, sich politisch engagieren und dann auch gehört werden. Bei vielen Jugendlichen ist das aber nicht immer der Fall. Für einige liegt das daran, dass Forderungen von Schüler*innen nicht berücksichtigt würden und ehrenamtliches Engagement ausgebremst werde.
Laut einer Jugendstudie der Vodafone-Stiftung aus dem letzten Jahr fühlen sich viele junge Menschen politisch kaum gesehen und repräsentiert, eine steigende Tendenz. Frida Otten, die dieses Jahr in Essen ihr Abitur geschrieben hat, hat das auch bei ihren Mitschüler*innen beobachtet: „Ich glaube, dass viele Politik immer als etwas gesehen haben, was man nicht selbst macht.“
Schlechte Repräsentation in Gremien
Elias Bala, Schüler*innenvertreter aus Bochum, vergleicht die Mehrheitsverhältnisse auf der Schulkonferenz, dem beschlussfassenden Gremium der Schule, mit der Ständeversammlung im vorrevolutionären Frankreich: „Wir haben die Schüler*innen, die eigentlich die größten Konsequenzen aus den Entscheidungen der Schulkonferenzen ziehen. Und wir haben die Lehrer*innen und die Eltern, die aber genau dieselben Stimmenverhältnisse haben und dann bei kritischen Fragen, sogar eher gegen die Schüler*innen stimmen.“ Die Aufgabe der Schule bzw. der Schüler*innenvertretung sollte eher darin bestehen, Schüler*innen zu politisieren, sodass sie auf höheren Ebenen politisch aktiv werden oder für ihre Anliegen demonstrieren gehen, so Elias. Er beschreibt das Gefühl, im System Schule in der Realität kaum noch etwas verändern zu können.
Forderung nach einem Streikrecht
In Deutschland ist Bildungspolitik Sache der Bundesländer. Die Schüler*innen seien aber auf Landesebene weitgehend machtlos, so Elias, der auch in der Landesschüler*innenvertretung aktiv ist. Da gebe es in Nordrhein-Westfalen hauptsächlich Gespräche mit der Schulministerin: „Dann ist es meistens eher so: Wir machen Fotos und wirklich drum herum kommt dann selten was.“
Eine seiner Forderungen ist ein Streikrecht für Schüler*innen, um auf Landesebene wirklich Druck auf die Politik ausüben zu können. Bei den Parteien gibt es dazu große Meinungsunterschiede. Emilia Fester (B90/Die Grünen), eine der jüngsten Bundestagsabgeordneten, befürwortet die Forderung. Jugendliche hätten dadurch ein höheres Druckpotential für ihre Anliegen. Martin Gassner-Herz (FDP) sieht den Sinn von Schulstreiks nicht, wie er sagt. Seiner Auffassung nach geht es bei Streiks darum, die eigene Arbeitskraft als Druckmittel gegenüber Arbeitgeber*innen einzusetzen. Die Beteiligung der Schüler*innen solle über dafür geschaffene Gremien stattfinden.
Unterricht müsse Begeisterung für Politik vermitteln
Im Unterricht würde der Status quo, wie beispielsweise der Kapitalismus, von vielen Lehrkräften wie ein Naturgesetz rübergebracht, sagt Elias. „Ich finde es muss vermittelt werden, dass Politik und politisches Engagement eigentlich doch wahnsinnig interessant sind. Denn es bestimmt unser aller Leben.“, so der Schüler*innenvertreter. Das müsse auch der Unterricht zeigen. Frida findet: Ob das im Unterricht passiere und auch bestehende Verhältnisse in Frage gestellt würden, sei leider sehr stark von der Lehrkraft abhängig. „Ich zum Beispiel hatte eine super junge Lehrerin, die sehr viel Wert auf unsere persönliche Meinung gelegt hat, die auch wirklich bei jedem Thema gesagt hat, ’bitte positioniert euch dazu‘. Dass man halt irgendwie in den Diskurs kommt. Ich glaube aber auch, dass das viele aber nicht machen.“ Dadurch entstehe auch das Gefühl, als einzelne Person sowieso keine Veränderungen bewirken zu können, sagt Frida.
Aimo Görne, Landesschüler*innenvertreter aus Berlin, findet, dass im Unterricht immer wieder auf existierenden Möglichkeiten für politisches Engagement hingewiesen werden muss: „Dass offen gefragt wird, dass die Mitwirkungsrechte nicht nur eingeräumt werden, sondern auch aktiv darauf hingewiesen wird. Dafür gibt es auch ein Informationsrecht der Schüler*innen, das darüber aufgeklärt.“ Das fange schon bei banalen Dingen wie der Entscheidung von Zielen für Klassenausflüge an. Demokratie dürfe in der Schule eben nicht nur theoretisch erklärt, sondern müsse auch gelebt werden, indem Schüler*innen ergebnisoffen bei relevanten Dingen Mitentscheidung zugestanden werde.
Aktuell nur 17 Minuten Politik pro Woche
In der Realität werden in der Schule durchschnittlich nur 17 Minuten pro Woche politische Themen besprochen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsprojekt der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2017, das alle Lehrpläne an weiterführenden Schulen in NRW analysiert hat. Die gleichen Lehrpläne gelten noch heute. Dort gehe es in den Fächern Politik bzw. Politik/Wirtschaft der Sekundarstufe I hauptsächlich um Wirtschaft. Der Themenbereich Gesellschaft käme deutlich zu kurz. „Politik und Demokratie sind für die Schule eine eher nachrangige Angelegenheit, ihre Stellung im Stundenplan und im Unterricht ist schwach“. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie. Wie aus der aktuellen Situation eine Stärkung demokratischen Denkens und Handelns bei Jugendlichen hervorgehen solle, bleibe ein Geheimnis.
Rein rechtlich sollte das eigentlich anders sein. Im Schulgesetz des Landes NRW (§2 Absatz 4) heißt es, Schüler*innen sollten in der Schule zu politischen Urteils- und Handlungskompetenzen gebildet werden. Sie sollen außerdem zu aktiven Bürger*innen im demokratischen Entscheidungsprozess werden. Die Landeszentrale für politische Bildung NRW schreibt dazu ebenfalls: „Eine demokratische Schulkultur soll das Erfahren von Demokratie als Lebensform ermöglichen.“ Das beschränkt sich nicht nur auf Engagement innerhalb von Parteien, sondern schließt auch Aktivismus mit ein.
Dass sich daran nichts änderte, erklärt Aimo, liege an einer verbreiteten Grundhaltung. Jugendlichen würde keine gleichberechtigte Meinung zugestanden und sie würden deshalb auch nicht an Entscheidungsprozessen beteiligt. Das zeige sich auch bei der Debatte um das Wahlrecht ab 16.
Transparenzhinweis: Emile Schnieders ist Mitglied der Grünen Jugend.