Jugendliche wollen von der Politik gehört werden – aber nicht jede*r hat eine laute Stimme. Zwei junge Menschen erzählen von ihrem politischen Engagement – beide sind ganz unterschiedlich aufgewachsen. Eine Auseinandersetzung damit, warum politische Partizipation oft auch eine Frage des Geldes ist.
In einem Poloshirt von Lacoste schaltet sich Phillip Venmann in das Video-Interview. Phillip hat sich schon früh politisch engagiert, bis vor Kurzem war er Mitglied des Pullacher Jugendparlaments in München. „Bei uns wurde, als ich Kind war, religiös ‚Logo‘ und die ‚Tagesschau‘ geguckt“, erzählt er. Die Politik sei einfach auf ihn zugekommen. Bei Luc Ouali war das anders. Seine Mutter ist alleinerziehend und 2001 nach Deutschland gekommen. Luc ist unter der Armutsgrenze aufgewachsen und heute Sprecher von „Fridays for Future“ (FFF) in München. Er sagt, Privilegien fingen viel früher an, als man denke. „Haben deine Eltern am Frühstückstisch die SZ gelesen? Haben sie mit dir politische Gespräche geführt? Dieses Privileg genießen oft weiße, akademisierte Kinder.“ Phillips Eltern lesen die „Süddeutsche Zeitung“. Sie haben ihm auch von klein auf beigebracht, Dinge zu hinterfragen und am Esstisch keine Scheu vor politischen Diskussionen zu zeigen.
Luc ist in einer „kleinen, aber süßen“ Dreizimmerwohnung im Münchner Westend aufgewachsen, Phillip in einer großen Doppelhaushälfte im bürgerlichen Pullach. Knapp neun Kilometer liegen dazwischen und ungefähr in der Mitte entscheiden Politiker*innen über die Zukunft der Menschen – auch über die Zukunft der jungen Menschen. Doch Minderjährige können politische Entscheidungen kaum beeinflussen. Und wenn, dann sind es meistens bestimmte Jugendliche, die sich politisch engagieren – das zeigt eine Statistik des Deutschen Jugendinstituts. Menschen aus einkommensschwachen Haushalten engagieren sich weniger politisch als Personen mit höherem Einkommen.
Experte: Jugendliche aus prekären Verhältnissen finden sich nicht in der Politik wieder
Das sei ein ganz klassisches Problem, sagt Prof. Dr. Wolf-Dietrich Bukow, Erziehungs- und Kultursoziologe an der Universität zu Köln. „Die Menschen, die in finanziell schwierigen Situationen leben, können sich mit der Gesellschaft viel weniger identifizieren. Weil das, was in der Öffentlichkeit und in der Politik geschieht, in der Regel ihre Interessen kaum berücksichtigt.“ Besonders die Parteiprogramme der Volksparteien seien auf eine bürgerliche Wählerschaft ausgerichtet. Denn Jugendliche aus prekären Verhältnissen fänden sich von Anfang an nicht in den Themen der Politik wieder. Deshalb sei auch die Motivation geringer, sich zu beteiligen.
Und wenn sie sich doch engagierten, würden sie schnell demotiviert, sagt Bukow. „All die Menschen, die bei der „Fridays for Future“-Bewegung aktiv sind, sind mittlerweile auch desillusioniert, weil nicht viel passiert“.
Von dem Gefühl, als Jugendlicher nur wenig Veränderung bewirken zu können, erzählt auch Phillip. Der 18-Jährige trat vor zwei Jahren dem Jugendparlament in seiner Gemeinde bei, nachdem seine Eltern ihn dazu ermuntert hatten. Dass Phillips Gemeinde über genug Geld für so eine Institution verfügt, ist nicht selbstverständlich. Das Jugendparlament sei ein guter Anfang, sagt er – und trotzdem kritisiert er es: „Wir als Jugendparlament waren halt eine Gruppe von Jugendlichen, die ein Budget hat, das sie unter bestimmten Voraussetzungen einsetzen kann. Aber keine Stimme zum Wählen im Gemeinderat, nur Rederecht. Wir waren so ein bisschen zum Nerven da“, sagt Phillip.
„Ich weiß echt nicht, wie das dann mit dem Abi laufen wird“
Luc will mit seinem politischen Engagement aber mehr als nur nerven. Vor allem, wenn der 17-Jährige neben dem Schulunterricht den nächsten FFF-Großstreik plant – das seien auch mal 40 unbezahlte Stunden die Woche, sagt er. „Ich vernachlässige Schule oft sehr, arbeite auch viel nachts. Ich weiß echt nicht, wie das dann mit dem Abi laufen wird“, sagt er und lacht dabei, verpackt seine Ungewissheit in Humor – das Geschenkpapier hat Knitter. Ein inneres Hadern schwingt in seinen Worten mit.
Phillip und Luc erzählen beide, dass sie schon früh einen Gerechtigkeitssinn gehabt hätten: Phillip spricht von einem diffusen Gefühl im Bauch, dass etwas falsch laufe in der Welt. Er habe es gespürt, als er soziale Missstände in der Tagesschau sah. Luc hingegen, als er diese selbst erlebte. Zum Beispiel, wenn seine Freund*innen jeden Monat ins Kino gingen und er zuhause blieb, weil er sich das Ticket nicht leisten konnte. Damit dieses Bewusstsein zu einem politisch aktiven Dasein heranreifen konnte, musste die „Fridays- for- Future“-Bewegung ihre ersten Schritte auf der Straßen gehen. Anfangs lief Luc nur mit, seit einem Jahr ist Luc richtig dabei und engagiert sich inzwischen als Sprecher.
„Ich hatte das Gefühl, dass Aktivismus vor allem was für weiße, akademisierte Menschen ist“
Lucs Weg war voll mit Steinen, die für Außenstehende unsichtbar waren: „Lange, lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass Aktivismus vor allem was für weiße, akademisierte Menschen ist, nichts für ein Arbeiter*innenkind, was dazu noch migrantisch ist“. Das sei aber nicht die einzige Hürde, die man als sozioökonomisch schwacher Jugendlicher zu überwinden habe. Ein politischer Café-Besuch, eine S-Bahnfahrt zum Plenum oder auch eine Zugfahrt zu einem Kongress in Thüringen – politische Partizipation kostet oft Geld. Geld, das Luc nicht immer hat.
Diese finanziellen Sorgen könnten Luc mit der Einführung einer Kindergrundsicherung abgenommen werden, sagt Experte Bukow. Er hält sie für einen „Schritt in die richtige Richtung“, ist aber der Meinung, dass sie nur mit gezielter Kommunikation funktionieren könne: „Wenn es abstrakt formuliert wird, wissen die Leute nicht, was passiert“. Generell müsse die Politik nahbarer für sozioökonomisch schlechter gestellte Jugendliche sein. Zum Beispiel, indem Politiker*innen in die Bezirke gehen und dort den Alltag der Jugendlichen miterleben und sich auf Augenhöhe mit ihnen unterhalten. Ihre Sichtweise müsse wahr- und ernstgenommen werden: „Die Themen müssen in öffentlichen Debatten vorkommen, also im Bildungssystem, in den Medien“, sagt Bukow.
Gleichzeitig müssten Partizipationsformen wie das Jugendparlament verbessert werden, indem mehr Geld in politische Bildung investiert werde, „damit Jugendliche nicht nur zu Wort kommen, sondern auch Erfolg haben“. Bukow sagt, es reiche nicht, sie in einer Art „Scheinpartizipation“ festzuhalten: „Die Jugendlichen brauchen die Vergewisserung, dass ihre Ideen nicht nur gehört, sondern auch umgesetzt werden“.