Zuletzt mehrten sich Berichte über antisemitische Übergriffe in Gedenkstätten. Im digitalen Raum ist das – je nach Post und Plattform – schon lange Alltag. Wie können Erinnerungsstätten damit umgehen?
Zum Zoom-Interview erscheint Dr. Iris Groschek auf die Minute pünktlich. Seit Jahren ist sie in der Erinnerungsarbeit tätig, zuletzt in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Aktuell leitet sie Öffentlichkeitsarbeit und Social Media der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und erzählt im Gespräch, wie man als Institution mit judenfeindlichen Kommentaren umgeht.
politikorange: Die Erinnerungskultur hierzulande steht unter Druck, nicht erst seit jüngeren Landtagswahlen oder dem Aufkommen von Telegram. Wie hat sich die Erinnerungsarbeit in den letzten Jahren entwickelt?
Dr. Groschek: Erinnerungskultur ist immer im Wandel. Das ist nichts, was einmal festgeschrieben wurde und seitdem immer fortgeführt wird. Natürlich verändert sich das Erinnern genauso wie sich eine Gesellschaft verändert. Bei den Gedenkstätten hat es ein bisschen länger gedauert, bis angekommen ist, dass es unheimlich wichtig ist für Gedenkstätten auch im Digitalen präsent zu sein – und eben nicht nur mit statischen Angeboten.
Was genau bedeutet es, ein nicht statisches Angebot zu schaffen? In einem älteren Interview erzählten Sie, dass Ihre Gedenkstätte kein stiller Ort sein soll.
Das heißt zum Beispiel sich in aktuelle Diskussionen einzubringen oder schlicht online auf unterschiedliche Art und Weise präsent zu sein. Nicht nur um Aufmerksamkeit von Stakeholdern oder Politikerinnen und Politikern zu erhalten, sondern eben auch von ganz normalen Menschen, die uns als Stiftung oder unsere Gedenkstätten so anders wahrnehmen. Das ist etwas, was sich verändert hat in den letzten zehn oder 15 Jahren, die Erwartung, auch online gefunden werden zu müssen. Und das Interesse ist da. Ich merke es in der Kommunikation mit unseren Followern. Es ist leichter geworden, mit Institutionen wie einer Gedenkstätte in Kontakt zu treten.
Wenn wir an die Zukunft der Erinnerung denken, dann müssen wir an junge Leute denken, dass sie es sind, die die Erinnerung weitertragen. Und das Wie sie das machen wollen. Sie müssen überlegen: Wie wollen wir denn in Zukunft erinnern und gedenken? Und wir möchten da gerne helfen bei der Suche nach Formen und Möglichkeiten. Und deswegen finde ich es sehr wichtig in einen Austausch auf Augenhöhe zu kommen.
Wie unterscheidet sich denn Erinnerungskultur online und offline, gerade vor dem Hintergrund des Antisemitismus?
Im Digitalen gibt es eine andere Sichtbarkeit. Wenn jemand in der Gedenkstätte ein Hakenkreuz einritzt, dann sehen das die Leute, die in der Gedenkstätte sind. Aber wenn ich online etwas sage und ein Mensch antwortet darauf und geht mit seiner vielleicht gegnerischen Position viral, dann ist es natürlich eine ganz andere Form der Dynamik, die sich entwickelt.
Hier vor Ort ist es ein viel intimerer Rahmen, in dem man sprechen und diskutieren kann. Alles was online ist, hat plötzlich eine ganz andere Öffentlichkeit. Das ist nicht nur kritisch zu sehen, sondern auch als Chance und ist daher auch ein Grund, warum wir auf Social Media gegangen sind – um eben diese Öffentlichkeit und die direkte Kommunikation zu haben.
Im digitalen Raum sind die Hürden für diffamierende Taten und Aussagen also niedriger?
Nicht nur, dass diese Hürden niedriger sind, es scheint manchmal auch eine Challenge zu sein, sich möglichst verfassungskonform und trotzdem antisemitisch oder rassistisch zu äußern. Und da finden rechtsextreme Positionen immer wieder neue Codes, beispielsweise in Form von Memes oder sogar Emojis. Das sind dann zum Beispiel „nur“ blaue Herzen oder ein Kommentar wie „Wooden Door.“
Diese Codes spielen auf eine Nähe zur in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD, beziehungsweise auf die Gaskammern in Auschwitz an.
Genau. Man muss sehr, sehr aufmerksam sein und wirklich jeden Kommentar sich mehr oder weniger daraufhin anschauen, wer da was sagt. Und man muss sehr viel schneller herausfinden, was könnte als Botschaft dahinter gemeint sein?
Wie geht man am besten mit solchen vermeintlich harmlosen Kommentaren um, löschen oder die Accounts melden und blockieren? Der dort mitschwingende Antisemitismus ist im Zweifel gut versteckt.
Ein Emoji mag jetzt vielleicht nicht ganz so schlimm erscheinen – aber denken wir an die mitlesende Community. Wir sind nicht unbedingt auf Counter Speech spezialisiert als Gedenkstätte auf Social Media, das machen andere viel besser. Wir haben einen Fokus auf historisch-politische Bildung. Aber eindeutig rassistische Kommentare dürfen wir nicht dulden.
Das Spannende finde ich, dass bei schwierigen Kommentaren genügend Leute aus der Community da sind, die etwas dagegen sagen. Wir als Gedenkstätte sind nicht die ‚Wächter‘ gegen Rassismus, Antisemitismus und so weiter. Dass wir eine Community schaffen, das ist unsere Aufgabe. Eine Community, die uns und unsere Geschichten wichtig findet und daraus eine Haltung für die Gegenwart ableitet.
Für junge Leute, die auf der Suche nach persönlichen Antworten sind auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen und Parallelen in der Geschichte finden, sollen unsere Accounts ein gemeinsamer Space sein, wo sie eben nicht dauerhaft mit Antisemitismus und Rassismus konfrontiert werden. Und das heißt – deswegen müssen wir es halt wirklich decodieren – wenn zum Beispiel dauerhaft blaue Herzen kommen und die rechte Community das total cool findet und sich heimlich als Sieger über einen Account sieht, wir vielleicht auch die mitlesende Community verlieren.
Dieses Jahr hieß es in einem Bericht von Unesco von Jüdischem Weltkongress, dass 49 Prozent der öffentlichen Inhalte mit Holocaust-Bezug auf Telegram die Fakten verzerren oder gar leugnen. Welche Rolle spielen einzelne Plattformen und Zielgruppen bei Ihrer Arbeit im digitalen Raum?
Wichtig ist Community-gerechtes Kommunizieren. Jede Community funktioniert anders. Facebook zum Beispiel nutzen wir mehr als digitale Pinnwand und weniger als Diskussionsforum. Auf X (vormals Twitter, Anm. d. Red.) ist das Umfeld so toxisch und schwierig geworden, dass ich gar nicht mehr weiß, ob man eine schweigende Mehrheit erreichen kann, wenn andere so laut sind. Hier suchen wir aktuell auf Bluesky oder Mastodon ein neues Medium.
Ich will jetzt nicht TikTok hochloben. Aber TikTok Deutschland hat gesagt: Wir finden es gut, dass ihr hier seid und wir helfen euch. Das ist natürlich auch gut für deren Außendarstellung. Meta hat uns nie unterstützt, da haben wir noch nicht einmal einen blauen Haken gekriegt.
Antisemitismus ist häufig eng verwoben mit Verschwörungsideologien. Erleben Sie das auch auf Ihren Online-Kanälen?
Ich glaube, dass es sehr divers ist, wie Gedenkstätten wahrgenommen werden und was für Menschen dort kommentieren. Es gibt sicher auch Kommentare von Anhängern von Verschwörungsmythen, und es gibt genauso Menschen, die bei uns ganz analog anrufen und beispielsweise sagen ‚Ich bin Adolf Hitler‘. Die Formen von Ablehnung bis Rassismus sind unterschiedlich, von stillschweigenden, unauffälligen Nutzerinnen und Nutzern, von Emojis oder Codewörtern bis hin zu offensiv rechtsradikalen Kommentaren.
Ich glaube gerade diese Szene der Verschwörungsmythen, die Menschen dort kann man gar nicht mehr erreichen. Wir sind wie gesagt nicht unbedingt auf Counter Speech aus. Das wäre vertane Zeit, wir wollen ja schließlich diejenigen stärken, die uns wichtig finden. Zudem man muss immer überlegen: Worauf reagiere ich und worauf lieber nicht? Durch Wahrnehmung gebe ich dem Kommentator ja auch eine Reichweite.
Viele Schulklassen besuchen Erinnerungsstätten, zum Beispiel die KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Süden Hamburgs. Wie fallen die Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit Judenhass aus?
Unsere Tour-Guides sagen, dass es nicht wirklich schwieriger geworden ist. Die Klassen sind eher immer noch so wie vor fünf Jahren. Aber wir sehen, dass es vor allem online eine stärkere Polarisierung gibt. Dass Handlungsspielräume sich scheinbar verengen, dass es sehr starke Positionen gibt und es schwierig ist, dazwischen zu vermitteln. Wichtig dabei ist, zurückzutreten und die Geschichte erzählen zu lassen, Schülerinnen und Schüler selbst analysieren zu lassen, was das mit ihnen und heute zu tun haben könnte – im Analogen wie im Digitalen.
Welches Feedback geben die Schülerinnen und Schüler mit Blick auf ihre Arbeit im digitalen Raum?
Manchmal bringen Schülerinnen und Schüler Vorbildung aus sozialen Medien mit. Das war vor fünf oder sechs Jahren absolut nicht so. Bei TikTok zum Beispiel ist das eine andere Generation, die wir erreichen. Die informieren sich darüber oder YouTube Shorts. Das merken unsere Guides, wenn auf Rückfragen geantwortet wird, das habe man auf dem TikTok-Channel der Gedenkstätte gesehen. Das finde ich toll, wenn diese Art von Feedback von jungen Leuten kommt, die hier sind und wir ein Standing haben, dass man uns auch online nicht nur wahrnimmt, sondern da auch vertraut und glaubt.