Filmkritik: Zwei Jahre nach dem Fall der Militärdiktatur in Argentinien werden die Verantwortlichen 1985 vor Gericht gestellt. Santiago Mitres neuer Film erzählt von den Hürden, Gerechtigkeit in eine neue Demokratie zu bringen.
Als der zweite Weltkrieg ein Ende nahm, stand Deutschland vor der schwierigen Aufgabe, sich mit seiner dunklen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nach dem Krieg musste das Land wieder neu aufgebaut, aber auch die musste Demokratie neu aufgestellt werden. Um das zu erreichen war es notwendig, die Menschen zur Verantwortung zu ziehen, die die Verbrechen während des Krieges begingen. Die Siegermächte stellten die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher vor Gericht, denn ihre Vergehen durften nicht in Vergessenheit geraten. Die Nürnberger Prozesse waren der Grundbaustein, auf denen sich Demokratien stützen konnten: Menschenrechtsverletzungen mussten vor Gericht gebracht werden.
Vier Jahrzehnte später stellte sich Argentinien einer ähnlichen Herausforderung. Während der siebenjährigen Diktatur wurden argentinische Bürger*innen entführt, gefoltert und im Geheimen ermordet. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 wurden die verantwortlichen Generäle vor ein Zivilgericht gestellt, obwohl viele Anhänger*innen der Diktatur der Meinung waren, die Generäle hätten nichts Verwerfliches getan. Santiago Mitres Film, im Oktober auf Amazon Prime erschienen, stellt sich der Frage: wie kann man in einer brüchigen Demokratie die Opfer der Diktatur gedenken?
Der Regisseur Santiago Mitre war selbst noch ein Kind, als die Militärdiktatur zu Ende ging. Das Drehbuch zu schreiben hat ihn zurück in seine Kindheit gebracht, in die 1980er, als die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Der Prozess wurde 1985 im Fernsehen übertragen, im Film selbst sind einige Ausschnitte davon zu sehen. Mitre hat Argentinien, 1985 beim Filmfest in Hamburg vorgestellt und sich besonders auf das Erinnern bezogen, als er über diesen Film diskutierte: ,,Ich hoffe, dieser Film dient auch dazu, die kollektive Erinnerung zu stärken.“ Bevor Santiago Mitre anfing, das Drehbuch zu schreiben, wurden er und sein Co-Drehbuchautor Mariano Llinás sich darüber bewusst, dass man in der argentinischen Gesellschaft kaum noch etwas von dem Prozess gegen die Militärjunta – also die Militärregierung – wusste. Gerade deswegen ist Argentinien, 1985 von großer Bedeutung.
Argentinien in den 1980ern
Das Vorhaben des Staatsanwalts Julio Strasseras ist eigentlich schon vorab gescheitert. Er und seine Familie werden von Unbekanntem bedroht die verlangen, dass er den Prozess beendet. Trotz wachsender Bedrohung stellt er ein Team bereit, welches dasselbe Ziel verfolgt wie er: die Generäle zu verurteilen. Obwohl das Land erst vor Kurzem zur Demokratie zurückgekehrt ist, sind einige der Meinung, dass Jorge Rafael Videla, Chef der Militärjunta, dem Land geholfen habe. Die Mutter seines Kollegen Luis Moreno Ocampo geht in dieselbe Kirche wie Videla und ihre hohe Meinung von ihm hat sich durch den Prozess nicht verändert. Andere Generäle durften mit ihrem Leben so weitermachen, als ob nichts passiert in den sieben Jahren der Diktatur passiert wäre. Sie gehen auf Partys, ohne dass die Leute sie weniger verehren.
In den 1980ern war Demokratie in Lateinamerika ein seltenes Gut. In Chile, Argentiniens Nachbarland, stand die Militärdiktatur noch auf festen Füßen und das Militär entführte und erforderte weiterhin Bürger*innen, die kritisch gegenüber der Diktatur waren. Dasselbe passierte auch in Brasilien, dessen Diktatur erst Ende der 80er zu Ende ging. Es war ungewöhnlich, die Verantwortlichen einer Diktatur vor einem zivilen Gericht zu stellen. Im Film bemühten sich die Generäle, vor einem Militärgericht verurteilt werden, welches mit Sicherheit viel glimpflicher mit ihnen umgegangen wäre. Aber diese Bitte wurde ihnen verweigert.
Die neun Generäle auf der Anklagebank
Strassera und Ocampos Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ohne die wichtigen Aussagen der Zeug*innen hätte niemand in Argentinien erfahren, wie die Opfer der Diktatur entführt, vergewaltigt und gefoltert wurden. Insgesamt wurden 833 Zeugenaussagen gesammelt, die auch für die Nachwelt ein wichtiges Dokument sind. Trotz wachsender Drohungen verkrochen sich die Zeug*innen nicht und erzählen dem Gericht ohne Einschränkung, was die Soldaten ihnen angetan haben.
In dem Film kommt die Zeugin Adriana Calvo de Laborde – gespielt von Laura Paredes – zu Wort, und erzählt wie sie gezwungen wurde, ihr Kind mit verschlossenen Augen auf die Welt zu bringen. Ihr Schicksal spiegelt das von vielen Frauen wieder, die während der Diktatdur entführt wurden: Die schwangeren Frauen haben ihre Kinder nie gesehen, denn diese wurden von den Soldaten einfach zur Adoption freigegeben. Es sind die Aussagen von Familien, die durch den Tod ihrer Angehörigen Jahre leiden mussten, die das wahre Gesicht der Militärjunta zeigt. Durch die Tapferkeit der Opfer kann das ganze Land von ihren Schicksalen erfahren, und wenige Meter von den Opfern entfernt sitzen die Generäle und müssen sich anhören, was ihre Regierung jahrelang den Menschen in Argentinien angetan hat.
Die Erinnerung an die Diktatur
Von diesem Prozess hing mehr ab, als nur die Verantwortlichen ins Gefängnis zu stecken. Anders als die Nürnberger Prozesse, die von den Siegermächten angeführt worden, stellte sich die Militärjunta vor den eigenen Landsleuten. Damit die demokratische Zukunft Hoffnung haben konnte, benötigten sie diesen Prozess. Über zehntausend Argentinier*innen sind während der Diktatur verschwunden, bis heute wissen die Hinterbliebenen nicht, wo sie sich befinden. Der Prozess gab dem Land eine Chance, sie nicht zu vergessen. Das Gericht verurteilt alle Generäle zu Haftstrafen, der Anführer der Junta, Jorge Rafael Videla, muss lebenslang ins Gefängnis.
Auch wenn die Diktatur Jahrzehnte zurückliegt, zeigt der Film, dass Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten dürfen. In dem Ukraine-Krieg zum Beispiel wird von Kriegsverbrechen der russischen Armee berichtet. Auch hier gilt es, nicht zuzulassen, dass die Verantwortlichen ohne Strafe weiterleben.
Für den Regisseur Santiago Mitre bedeutet der Film mehr, als nur den Gerichtsprozess wiederzugeben. Bis heute wollen Argentinier*innen wissen, was mit denen passiert ist die entführt worden sind. ,,Das ist sehr wichtig, damit Gesellschaften nicht in alte Muster oder alte Fehler verfallen.“, meint Santiago Mitre. Argentinien, 1985 zeigt den Zuschauer*innen, dass die Generäle nicht damit durchgekommen sind. Aber nach 1985 geht der Kampf weiter. Die Militärjunta wurde verurteilt, aber keine anderen verantwortlichen Polizisten oder Soldaten. Bis heute wurde eine Mehrheit der Opfer nicht gefunden. Die Organisation Madres de Plaza del Mayo kümmert sich seit 1979 darum, dass die Erinnerung an die Opfer, die nie gefunden wurden, erhalten bleibt.
„Argentinien, 1985 – Nie wieder“: Santiago Mitre, Argentinien/USA 2022, 140 Minuten, auf Amazon Prime verfügbar