Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) holte bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein mehr Stimmen als je zuvor. Doch wofür steht die Partei?
Es ist Samstagnachmittag, einen Tag vor der Wahl. Marvin Schmidt und Jacqueline Hüls sitzen in Marvins Wohnung am Schreibtisch und bereiten sich auf den Kneipen-Wahlkampf vor, der in zwei Stunden stattfinden soll. Auf dem Tisch stehen Kisten mit kleinen Schnapsflaschen. Marvin, der wie Jacqueline im Vorstand der SSW-Jugend Kiel ist, druckt noch die Sticker aus, die dann auf die Flaschen geklebt werden sollen. „Morgen SSW wählen“ steht darauf.
Als Direktkandidat für den Wahlkreis Kiel-Nord liegen anstrengende Wochen hinter ihm, die mit Wahlständen, Podiumsdiskussionen und dem Verteilen von Flyern gefüllt waren. Der 24-Jährige ist noch Master-Student an der Kieler Universität. Es war für ihn oft nicht einfach, das Studium und seine Arbeit als Lehrer an einer Schule in Mettenhof mit dem Wahlkampf zu vereinen.
So wie ihm geht es den meisten seiner Parteikolleg*innen aus Kiel, die auch zusätzlich arbeiten oder studieren. „Andere Parteien können mit ihren Mitteln jeden Tag Wahlstände besetzen, aber wir müssen uns gezielt lukrative Standorte aussuchen, an denen wir die meisten Menschen mit unserer Idee erreichen können“, erzählt Marvin.
Der von der Jugendorganisation des SSW organisierte Bar-Wahlkampf gehört für die Partei schon zu den größeren Abendprogrammen. Wenn zwanzig Menschen bei ihren Veranstaltungen mitmachen, sei das ein Erfolgserlebnis. Das liegt daran, dass selbst in Kiel der SSW nicht bei allen bekannt ist. „Man muss sich die Mühe machen, sich mit einer Partei, die man nicht kennt, auch zu befassen“, sagt Marvin dazu. „Und das ist für viele schwierig.“
Ein langsames Ankommen in der Gesellschaft
Als Minderheiten- und Regionalpartei sind dem SSW vor allem die Interessen der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein ein Anliegen. Inzwischen schließt er aber auch andere Gruppen wie Sinti*zze und Rom*nja mit ein. Dadurch, dass die Partei sich ursprünglich aus der dänischen Minderheit heraus gründete, haben sie im Rahmen der Bonn-Kopenhagener Erklärungen einen Sonderstatus erhalten.
Dabei haben Deutschland und Dänemark gegenseitig ihre Minderheiten im eigenen Land anerkannt. Im Zuge dessen wurde der SSW von der Fünf-Prozent-Klausel befreit. So zieht er immer in den Landtag ein, sobald er genug Stimmen für mindestens einen Sitz gewonnen hat. Auch wenn die Minderheiten weiterhin im Vordergrund stehen, werden andere Bürger*innen keineswegs außen vor gelassen.
Im Gegenteil: Im Programm des SSW liegt der Fokus vor allem auf der Sozial- und Arbeitspolitik. Die Partei setzt sich für Geringverdienende ein und Themen wie der öffentliche Nahverkehr und der Wohnungsmarkt sind ihr ein besonderes Anliegen. Dort fordert sie zum Beispiel, dass der ÖPNV für alle günstiger und der soziale Wohnungsbau vorangetrieben werden soll. Man muss auch nicht der dänischen Minderheit angehören, um der Partei beizutreten.
Marvin kommt aus dem Saarland und zog erst für sein Studium nach Kiel. Zur letzten Landtagswahl kam er mit dem Programm des SSW in Berührung. Vor allem die Sozial- und Bildungspolitik auf regionaler Ebene, unabhängig vom Bund, überzeugten ihn. Je weiter man jedoch in die nördlichen Regionen Schleswigs schaut, desto höher ist dort auch der Anteil an Dän*innen.
In den letzten Jahrzehnten fuhr der SSW nicht die besten Ergebnisse bei den Landtagswahlen ein. Erfolge feierte die Partei vor allem auf der Kommunalebene. Hier erreicht der SSW teilweise zwanzig Prozent bei Wahlen. Anders sieht es auf Landesebene aus. Seit den 70er-Jahren hat die Partei nicht mehr als 1,7 Prozent erreicht. Erst mit der Landtagswahl 2012 hat sich das geändert.
Dort erreichte der SSW 4,6 Prozent und konnte sich auch 2017 immerhin bei über 3 Prozent halten. In das Bewusstsein der Menschen in ganz Deutschland kam der SSW bei der letzten Bundestagswahl, bei der genug Stimmen erzielt wurden, um mit Stefan Seidel einen Sitz im Bundestag zu besetzen. Seitdem ist der SSW nicht mehr nur den Menschen im Norden ein Begriff.
Überraschender Wahlerfolg
Sonntagabend, 17:50 Uhr. Im dritten Stock drängen sich die Leute in einen kleinen Büroraum am Ende des Flures. Die Luft ist stickig und die Stimmung zwar gut, aber noch etwas verhalten. In zehn Minuten schließen die Wahllokale und über den Bildschirm an der Wand erfahren die versammelten SSWler*innen, ob die Umfragen der letzten Tage, die ihnen fünf bis sechs Prozent Stimmanteil voraussagten, tatsächlich gestimmt haben.
Lars Harms, Spitzenkandidat des SSW, begrüßt die Schaulustigen und Pressevertreter*innen, die versuchen, noch einen Platz zwischen den Stehtischen zu finden. Vor mehreren Rollups mit dem SSW-Wahlspruch „Deine Minderheit“ steht Jette Waldinger-Thiering, ebenfalls Spitzenkandidatin, mit einem Mikrofon in der Hand und bedankt sich bei ihren Unterstützer*innen. Die Minuten verstreichen. Alle warten darauf, dass die Tagesschau die ersten Wahlergebnisse bekannt gibt. Dann plötzlich die Erlösung: sechs Prozent.
Die Freude ist riesig. Fahnen werden geschwenkt, herzliche Umarmungen ausgetauscht und einige Menschen haben Tränen in den Augen. Für den SSW ist dies ein historisches Ergebnis. Viele haben sich nicht getraut, darauf zu hoffen. Einen so hohen Stimmanteil hatte die Partei seit 1947 nicht mehr. Am nächsten Tag steht auch das amtliche Endergebnis mit 5,7 Prozent fest, das sind 2,4 Prozent mehr als bei der letzten Landtagswahl. Das bietet dem SSW einige Möglichkeiten: Sollte Wahlsieger Daniel Günther keine Koalition mit den Grünen oder der FDP anstreben, stünde tatsächlich eine Koalition mit dem SSW im Raum, da der CDU zur Mehrheit nur ein einziger Sitz fehlt. Der SSW zeigt sich grundsätzlich offen für Verhandlungen, sieht aber den Ministerpräsidenten in der Pflicht, diese Gespräche zu eröffnen. Harms sagt dazu: „Das ist die Entscheidung von Herrn Günther.“