An der italienisch-französischen Grenze nehmen Geflüchtete gefährliche Wege über die Alpen auf sich, um nach Frankreich und weiter nach Deutschland zu gelangen. Oft fängt sie die französische Grenzpolizei ab und schickt sie zurück nach Italien. Eine Reportage von Helene Ruf über die Situation vor Ort.
Umgeben von Bergen, nahe der italienisch-französischen Grenze, liegt Oulx. Die italienische Kleinstadt ist die letzte Station für Geflüchtete, bevor sie die Grenze passieren. Etwa 4.000 Geflüchtete versuchen hier jedes Jahr auf gefährlichen Wegen die Alpen zu überqueren, um nach Frankreich zu gelangen. Normalerweise ist Oulx ein Skiparadies und zieht viele Tourist*innen an. Die Sonne scheint und der Himmel ist wolkenlos. Wenige Wanderer*innen nutzen heute das gute Wetter für einen Ausflug. Es ist Mai, doch die Berggipfel sind noch mit Schnee bedeckt. Einige arabisch sprechende Menschen sitzen auf den Stühlen eines geschlossenen Cafés. Ein kleines Mädchen, etwa fünf Jahre alt, versteckt sich unter dem Rock ihrer Mutter.
Endstation Deutschland
Neben dem Bahnhof steht ein Container vom Italienischen Roten Kreuz, höchstens 15 Quadratmeter groß. Darin sitzen etwa zehn Menschen auf dem Boden und unterhalten sich, trotz Maske. Eine Mischung aus Arabisch, Französisch, Italienisch und Englisch ist zu hören. Drei Männer stehen vor dem Container und rauchen. Einer davon ist Fari.
Der 21-Jährige kommt ursprünglich aus Afghanistan und ist über die Balkanroute nach Italien gekommen. Seit über einem Jahr ist Fari unterwegs. In Griechenland ist er in die EU eingereist und müsste eigentlich dort seinen Asylantrag stellen. Doch Fari möchte unbedingt nach Deutschland und dort vielleicht Ingenieur werden. Lächelnd sagt er: „Ich verstehe auch schon ein bisschen Deutsch.“ Um Deutschland zu erreichen, muss er allerdings erst einmal über die Alpen.
Ich verstehe auch schon ein bisschen Deutsch
Heute wagt er den dritten Versuch über die Grenze. Die letzten zwei Tage hat ihn die französische Grenzpolizei abgefangen und nach Italien zurückgeschickt. „Bis 19 Uhr bleiben wir hier bei dem Container. Dann nehmen wir den Bus und versuchen es noch einmal“, erklärt er.
Auch der 19-Jährige Etienne aus Gambia möchte heute unbedingt die Grenze überqueren. „Ich möchte nach England, ich habe dort einen Cousin“, erzählt er. Er hat die Bilder aus Calais gesehen, auf denen Menschen verzweifelt versuchen den Ärmelkanal im Schlauchboot zu überqueren. Doch abgeschreckt haben sie ihn nicht. „Ich habe jetzt keine Angst mehr. Bis nach England wird es nicht mehr schwer“, sagt er. Dass Großbritannien 95 Prozent der gambischen Asylanträge ablehnt, weiß Etienne, aber er möchte es dennoch versuchen.
Im Dunkeln über die Alpen
Die blauen Linienbusse fahren direkt gegenüber vom Container ab. Eigentlich sind sie für Skifahrer*innen gedacht, doch zurzeit sind Geflüchtete die einzigen Gäste. Während zwei Wanderer mit festem Schuhwerk und Wanderrucksäcken gerade aus den Bergen zurück zum Bahnhof stapfen, steigen neun Geflüchtete mit wenigen Habseligkeiten in den Bus ein. Er bringt sie in den benachbarten Ort Clavière. Von dort aus sind es noch zwei Kilometer bis in die französische Kleinstadt Montgenèvre. Eine vermeintlich kurze Strecke, doch im Schnee in 2.000 Meter Höhe kann dieser Weg lebensgefährlich sein.
Etwa fünf Geflüchtete sind seit 2016 bei der Überquerung gestorben. Anderen Menschen sind Füße oder Hände erfroren. Trotzdem macht sich jeden Abend ein Dutzend Geflüchtete auf in die Berge, um im Schutz der Dunkelheit die Grenze zu überqueren. Oftmals ohne Erfolg. Das hindert sie aber nicht daran, es weiter zu versuchen. Irgendwann schaffen es die meisten Geflüchteten dann doch nach Frankreich.
Von einer Notunterkunft zur nächsten
Ende März wurde in Oulx ein ehemals von Aktivist*innen besetztes Haus geräumt, in dem geflüchtete Menschen Zuflucht fanden. Jetzt übernachten die meisten von ihnen in einem privat betriebenen „Rifugio“ in Oulx, einer früheren Pilgerherberge. Wenn Menschen es schaffen, die Grenze zu überqueren, werden sie auf französischer Seite ebenfalls in einer Notunterkunft untergebracht.
In Ventimiglia, einer italienischen Grenzstadt am Mittelmeer, wurde im Juli 2020 ein vom Roten Kreuz betriebenes Flüchtlingscamp geschlossen, das nach Italien zurückgeführte Geflüchtete betreute. Grund dafür war die Corona-Pandemie. Axel, ein Freiwilliger der Organisation „Kesha Niya“ erzählt: „Wir kümmern uns um die Geflüchteten, die von der französischen Grenzpolizei zurückgeschickt werden und geben ihnen etwas zu essen. Manche Familien müssen auf der Straße oder unter der Brücke schlafen.“ Die französische Grenzpolizei verstößt „Human Rights Watch“ zufolge in Ventimiglia sogar gegen internationales Recht: Sie verändert Geburtsdaten unbegleiteter Minderjähriger, um sie als „Volljährige“ nach Italien abzuschieben. Unbegleitete Minderjährige dürfen eigentlich nicht abgeschoben werden.
Private Organisationen bieten Unterstützung an
Es kommt häufig zu Konflikten mit der Polizei. Axel erzählt, er wurde bereits mehrmals von der italienischen Polizei angehalten, als er zurückgeführte Geflüchtete an der Grenze in Empfang genommen hat. Ihm wurde vorgeworfen, die Grenze von Frankreich nach Italien ohne negativen Corona-Test überquert zu haben, obwohl er die Grenze seiner Meinung nach nicht überschritten habe „Die Grenzpolizei versucht uns Freiwilligen Steine in den Weg zu legen, besonders seit Corona“, meint er. Auf französischer Seite berichtet die Organisation tous migrants, dass Freiwilligen bereits mehrmals Bußgelder verhängt wurden, wegen Verstößen gegen die nächtliche Ausgangssperre – obwohl sie über eine offizielle Ausnahmeerklärung verfügten.
Trotzdem wollen sie weitermachen, denn in erster Linie kümmern sich Hilfsorganisationen um die Geflüchteten. Ohne die Freiwilligen auf beiden Seiten der Grenze wären die Geflüchteten auf sich allein gestellt. Das ist ein allgemeines Phänomen in Europa. Auch die Seenotrettung im Mittelmeer wird vor allem von privaten Organisationen wie SOS Méditerranée, Ärzte ohne Grenzen oder Seawatch geleistet. Die Flüchtlingscamps werden meist von Nichtregierungsorganisationen betrieben. Von staatlicher Seite kommt wenig Unterstützung.
Gemeinsame europäische Strategie fehlt
An menschenunwürdige Bilder von der europäischen Außengrenze haben sich viele von uns schon gewöhnt. Fast täglich erreichen uns Nachrichten von Geflüchteten in Seenot auf dem Mittelmeer. Auch die Bilder aus Moria haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Doch dass sogar innerhalb Europas für tausende Menschen auf der Flucht Gefahren lauern, ist wenig bekannt. Während europäische Staatsbürger*innen, zumindest vor Corona, ungehindert europäische Grenzen passieren konnten, bleiben Menschen auf der Flucht und ohne Pass nur gefährliche Wege über die Grenze.
Aufgrund der Dublin Regelung sind die Einreiseländer für Asylverfahren der Geflüchteten zuständig. Das sind meistens Griechenland, Italien oder Spanien. Diese Länder sind überfordert mit der Anzahl an gestellten Asylanträgen. Menschen, die wie in Oulx in andere Länder weiterreisen möchten, werden in die Eintrittsländer zurückgeführt, wenn bekannt wird, dass sie bereits in Griechenland oder Italien registriert wurden. Das ist geltendes Recht, egal wie überfordert Einreiseländer wie Griechenland sind. Der Großteil der Geflüchteten möchte aber nicht in menschenunwürdigen Lagern in Italien oder Griechenland bleiben und reist auf eigene Faust, über gefährliche Wege, Richtung Norden, wie die Menschen an der italienisch-französischen Grenze.
Die Situation an der französisch-italienischen Grenze zeigt, dass eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik fehlt. Die Leidtragenden sind die Geflüchteten.