Sebahat Kandemir engagiert sich in der Schilleria in Neukölln, wo sie als Jugendliche selbst Empowerment erfuhr. Mit politikorange-Redakteurin Klaudia Lagozinski spricht sie über Chancengleichheit.
Sebahat Kandemir weiß, wie wichtig es ist, Schüler*innen aus Familien mit Migrationsgeschichte und bildungsfernen Haushalten zu unterstützen. Vor allem, wenn sich die Lebensrealität der Elterngeneration stark von der ihrer Kinder unterscheidet.
Die 21-jährige studiert Recht und Politk an der Europauniversität Frankfurt Oder und arbeitet als studentische Hilfskraft im Bundestag. Außerdem unterstützt sie als Ehrenamtliche der Schilleria, einem Jungendtreffpunkt in Berlin-Neukölln, Mädchen mit Migrationsgeschichte und aus bildungsfernen Familien auf ihrem Weg zwischen Schule und Erwachsenwerden.
politikorange: Sebahat, am 7. Mai 2021 sprachst du in der AG „Unsere Chancen, unsere Zukunft“ auf den JugendPolitikTagen 2021 über deinen bisherigen Werdegang. Wie bist du aufgewachsen und wie hat dein soziokulturelles Umfeld deinen Weg beeinflusst?
Sebahat Kademir: Ich bin mit meiner Mutter – sie kam in den 1960er-Jahren als Arbeiterin aus der Türkei nach Deutschland – und meinen zwei älteren Geschwistern groß geworden. In der Grundschule war alles okay, die Lehrer*innen haben uns motiviert. Wir hatten gute Noten. Für uns stand früh fest, dass wir studieren wollen. Wir wollten auf jeden Fall etwas Großes machen, Ärztin, Anwältin. Das waren damals die einzigen Berufe, die man kannte.
Wie ging es dann weiter?
In meiner Oberschule in Neukölln hatten fast alle eine Migrationsgeschichte. Wenn ich mich Recht erinnere, haben außerdem die meisten Eltern dieser Schüler*innen soziale Leistungen bezogen. Untereinander wurde keiner wegen diesen Sachen gemobbt.
Die Bildungschancenungleichheit ist von den Lehrern ausgegangen. Damals wurden wir in Schubladen gesteckt. Wir haben diese dann auch ausgefüllt. Wenn du erst mal erkennst, dass du dich nicht verbessern kannst, machst du auch genau das, was die Lehrer von dir erwarten.
Du wirst mit diesem Bild gefüttert: Dass wir es nicht schaffen können, dass unser Deutsch besonders schlecht ist. Wir alle haben wegen solcher Kritik heutzutage immer noch das Gefühl, uns nicht richtig ausdrücken zu können. Mir ist erst in der Uni aufgefallen, dass Leute, die keine Migrationsgeschichte haben, auch Grammatikfehler machen.
Wenn du Lehrer*innen einen Rat geben könntest, welcher wäre es?
Man kann bestimmt als Lehrer*in nicht alle Kinder objektiv betrachten, aber es zumindest anstreben. Wenn man Schüler*innen sagt, sie seien nicht gut genug, werden sie niemals in der Lage sein, ihre Bestleistung zu geben. Einmal habe ich von einer Lehrerin gehört, die die Namen ihrer Schüler*innen beim Korrigieren von Klassenarbeiten abklebt, so etwas geht in die richtige Richtung.
Wann und wie hast du gemerkt, dass du anders aufgewachsen bist als viele andere Kinder und Jugendliche, die in Deutschland auf ein Gymnasium gehen?
Ich habe vor meinem jetzigen Studium ein halbes Jahr Kulturwissenschaften studiert. Dort merkte ich, dass ich die ersten Wochen Angst hatte, zu sprechen. Ich dachte, dass ich schlecht Deutsch spreche. Am Anfang habe ich versucht, mich zu verstellen. Später habe ich das abgelegt, weil mir aufgefallen ist, dass die damaligen Lehrer*innen uns eben diese Angst gemacht haben. Während der Uni wurde ich selbstbewusster.
Woher kam für dich und deine Geschwister so früh der Wunsch, zu studieren?
Ich weiß gar nicht, woher genau. Es war nicht so, dass ich in meinem direkten Umfeld gesehen habe, dass Leute studieren. Man wusste aber, dass das viel bedeutet. Meine Mutter ist als Arbeiterin aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Am Anfang dachte sie, dass sie zurückgehen wird. Das ist der Grund, wieso sie nie Deutsch gelernt hat. Die Integration ist gescheitert, weil nicht gewollt war, dass türkische Gastarbeiter*innen bleiben. Deswegen hatte sie auch keinen Abschluss. Dadurch wussten wir als Kinder eben, wie es ist, wenn man keinen Abschluss hat und dachten: Okay, dann müssen wir studieren.
In der AG hast du erzählt, dass du früher Kündigungsschreiben für deine Mutter ins Deutsche übersetzen musstest. Was brauchen Kinder, Jugendliche und Studierende aus Familien mit Migrationsgeschichte und aus bildungsfernen Familien?
Die Hilfe muss vom Staat geleistet werden. Dolmetscher*innen gibt es in Berlin einige. Es gibt Stellen, die das ehrenamtlich anbieten. Aber damals wusste ich das nicht, das war das Problem. Wir haben doch schwarze Bretter in der Schule. Wieso hat damals keiner dafür Werbung gemacht?
Welche Art von Unterstützung bot dir der Mädchentreffpunkt Schilleria in Berlin-Neukölln in deiner Jugend?
Ich bin dort mit dreizehn, vierzehn Jahren hin. Erstmal war es gut, dort einen Raum zum Chillen zu haben. Man hatte kein Geld, wollte aber auch nicht auf der Straße hocken und die Wand anstarren. In der Schilleria waren auch Betreuer*innen, die politische Arbeit machen und bei den Hausaufgaben helfen. Dort gibt es Drucker, PCs. Die Betreuer*innen waren interessiert, haben nachgefragt, wie es in der Schule läuft. Und dann hat man sich bei denen ausgekotzt. Es war nicht so, wie Zuhause, wo gesagt wurde: Du musst immer auf deine Lehrer hören.
Als junge Erwachsene hast du selbst beschlossen, dich als Betreuerin in der Schilleria zu engagieren. Wie kann man sich deine Arbeit vor der Corona-Pandemie vorstellen?
Ich war meistens samstags da und habe mich an die Mädels angepasst. Wenn sie Hausaufgaben machen wollten, dann saß ich mit ihnen daran. Wenn sie nachdachten, die Schule abzubrechen, habe ich mir zusammen mit den anderen Betreuerinnen die Geschichten angehört und Strategien für die Mädels entwickelt: nach Alternativen gesucht, Bewerbungen geschrieben. Außerdem geholfen, interne Konflikte zu lösen, zwischen Freundinnen, mit Lehrern. Da haben wir auch einfach zugehört.
Wenn Gelder da waren, haben wir auch die Mädels gefragt, worauf sie Lust haben. Ob es Eislaufen war oder sie ins Kino gehen wollten, das haben sie selbst entschieden.
Wie hat sich die Schilleria aus deiner Sicht während der Pandemie verändert?
Die Mädels können nur noch mit Anmeldung zur Notbetreuung kommen. Auch haben wir uns Alternativen einfallen lassen: Die Mitarbeiterinnen stellen kleine Päckchen zusammen, beispielsweise mit Backpapier, Zutaten und einem Rezept, die die Mädels dann abholen und Zuhause machen können.
Reflektierend als junges Mädchen, das erst selbst den Jugendtreff besuchte und dann dort als Ehrenamtliche arbeitet: Welche Rolle spielt Empowerment-Arbeit für dich?
Eine ehemalige Mitarbeiterin hat mich damals gestärkt. Dadurch, dass ich bei mir gesehen habe, was es bedeutet, als ich dann doch nicht die Schule abgebrochen habe, ist mir bewusst geworden: Das ist viel wert. Das will ich weitergeben.
Wenn du niemanden hast, bei dem du sagst ‚So will ich sein‘, brauchst du jemanden, der dir beibringt, dein eigenes Vorbild zu sein. Es ist einfacher, wenn du ein Ziel vor Augen hast. Dann weißt du: Egal, wie steil der Weg sein wird, dass du diesen Weg gehen kannst, trotz der Steine, die dir in den Weg gelegt werden.
Gibt es rückblickend auf deine Jugend Dinge, die du gerne getan hättest, aber die du aufgrund der Strukturen, in denen du lebtest, nicht machen konntest?
Bildung ist der Schlüssel zu allem. Früher habe ich das nicht verstanden. Nach dem Abitur hätte ich trotzdem gerne ein Jahr Pause gemacht. Aber ich dachte, dass ich es mir nicht leisten kann.
Deswegen habe ich mich direkt immatrikuliert. Mittlerweile weiß ich, dass es immer Alternativen gibt.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Ein wiklich sehr guter Artikel, der nicht nur bei der BPB erscheinen sollte, sondern sehr breit zu publiziert werden müsste! Hier wird sehr deutlich, wieviel Unterstützungsbedarf notwendig ist, um viel mehr Kindern und Jugendlichen einen Weg zu eröffnen, der für sie einen enormen Prozess auslösen kann, ihr zukünftiges Leben ihnen lebenswert erscheinen zu lassen. Vielen Dank für Ihr vorbildliches Engagement, Sebaht Kandemir