Müdigkeit, Vergesslichkeit, emotionale Ausbrüche: Für die meisten Menschen* typisch für einen schlechten Tag, für andere sind das lebenslange Begleiter. Der Grund dafür: FASD, eine nahezu vermeidbare Krankheit. politikorange-Redakteurin Katharina Osterhammer sprach mit Betroffenen.
Drei Geschwister während des Familienurlaubs in Schleswig-Holstein: Das Foto erinnert Familie Lepke an ihre Reise in den vergangenen Sommerferien. Jim, der Junge mit dem orangefarbenen T-Shirt, erzählt von der Rapsernte, bei der er geholfen hat. Auch Shannon, die Älteste, berichtet von einer schönen Zeit. Dass die Geschwister währenddessen jeden Tag Medikamente nehmen mussten, ist für sie Normalität. „Nur so können sich die drei länger als ein paar Sekunden konzentrieren“, erklärt ihre Pflege- und Adoptivmutter Katrin Lepke. Die Kinder selbst sagen: „Für uns wäre es ein Albtraum, wenn wir keine Medikamente mehr nehmen würden. Wir würden uns in unserem eigenen Verhalten nicht mehr wiedererkennen – vor allem, weil wir dann sehr schnell wütend werden.“ Grund dafür: Ihre leiblichen Mütter* haben während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Die gesundheitlichen Folgen dieses Alkoholkonsums werden unter dem Begriff „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ zusammengefasst, kurz FASD. Schätzungsweise 1,6 Millionen Deutsche* leben mit verschiedenen Symptomen dieser Krankheit.
Der Schein kann trügen
FASD ist ein Sammelbegriff für die unterschiedlichen Ausprägungen dieses Krankheitsbildes. Manchen Betroffenen* sieht man ihre Behinderung an, dann besitzen sie das Vollbild von FASD. Dieses Vollbild wird FAS genannt – Fetales Alkohol Syndrom. Ein kleiner Kopf, eine schmale Oberlippe und eine flache Nasenrinne prägen die Gesichtszüge dieser Menschen*. Oft sind ihre Körper kleiner und dünner als die von Altersgenoss*innen. Shannon und Jim sehen auf den ersten Blick wie gewöhnliche Teenager* aus. Nur, wer genau hinsieht, erkennt in ihren Gesichtern die typischen FASD-Merkmale. Dem kleinen Bruder der beiden ist das Vollbild jedoch deutlich anzusehen. Er lebt ebenfalls als Pflegekind bei Katrin Lepke und ihrem Mann Mario. Am meisten leiden oft nicht die Betroffenen* mit Vollbild unter der Krankheit, sondern diejenigen, denen man ihre Behinderung äußerlich nicht ansieht. „Schein und Sein klaffen bei Personen* mit FASD häufig extrem weit auseinander“, erklärt Katrin Lepke. Sie ist nicht nur Pflege- und Adoptivmutter von drei Heranwachsenden mit FASD, sondern auch stellvertretende Vorsitzende des Vereins „FASD Deutschland e.V.“. Der Verein bietet eine Anlaufstelle für Betroffene* und hat sich unter anderem ihrer Vermittlung an Ämter und spezialisierte Praxen verschrieben. Lepke erklärt: „Oft sind FASD-Betroffene* sehr sprachgewandt.“ Dadurch würden sie nicht den Anschein geistiger Einschränkungen erwecken – ein Trugschluss.
Auch wenn die Symptome von FASD variieren, bestimmte Eigenschaften einen alle Betroffenen*: Schwierigkeiten in der Impulskontrolle, Einschränkungen der Exekutivfunktion und beim Lernen aus Erfahrung. Übersetzt bedeutet das: Viele Menschen* mit FASD werden schnell wütend und können ihre Emotionen nicht kontrollieren. Außerdem dauert es bei ihnen oft lange, bis sie Handlungsmuster verinnerlicht haben. Bis Shannon Schleifen binden konnte, vergingen viele Monate, erzählt ihre Adoptivmutter. Nachdem sie ein Paar Schuhe mit Klettverschluss hatte, verlernte sie das mühsam antrainierte Schleifenbinden sofort und begann erneut von Null. Heute arbeitet Shannon als Stallhelferin auf einem Pferdehof und berichtet von ähnlichen Ereignissen. „Es kann sein, dass ich eine Aufgabe an einem Tag ohne Probleme erledigen kann und am nächsten Tag wieder Hilfe dabei brauche“, erklärt die 19-Jährige. Sie und ihr kleiner Bruder Jim haben sich inzwischen angewöhnt, Hilfe anzunehmen: „Wenn ich zum Beispiel in der Schule etwas nicht verstanden habe, bitte ich Lehrer*innen und Freund*innen darum, es mir nochmal zu erklären“, erzählt Jim.
Wie FASD entsteht
Er und Shannon sind mutig. Und sie haben den Willen etwas zu verändern: „Wir wissen, wie schwierig es ist, mit FASD zu leben. Deswegen wünschen wir uns von allen schwangeren Frauen*, dass sie keinen Alkohol trinken und nicht noch mehr Babys* mit unserer Behinderung auf die Welt kommen.“ Das fordert auch Dr. Heike Hoff-Emden. Sie ist die Leitende Ärztin des Sozialpädiatrischen Zentrums Leipzig und behandelt seit fast 30 Jahren Menschen* mit FASD. „Es ist die häufigste angeborene Behinderung und sie ist theoretisch zu 100 Prozent vermeidbar“, so die Medizinerin. Theoretisch, unter anderem deswegen, weil viele Frauen* nicht von Anfang an um ihre Schwangerschaft wissen. Die Alkoholmenge, sowie der Zeitpunkt des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Hoff-Emden betont: „Das Gehirn des Kindes* entwickelt sich die komplette Schwangerschaft über. Deswegen ist jeder Tag, an dem das Kind* keinen Alkohol bekommt, ein guter Tag.“ Warum der Alkoholkonsum der werdenden Mütter* so drastische Folgen für ihre Kinder* hat, hängt mit der Organentwicklung der Babys* zusammen. Über die Plazenta gelangt der Alkohol in das Blut des Kindes*. Die Leber, die bei Erwachsenen* für den Alkoholabbau zuständig ist, ist bei Ungeborenen* noch nicht vollständig entwickelt. Dadurch bleibt der Alkohol etwa drei Mal länger im Körper des Kindes* als im Körper der Mutter*. Umgerechnet heißt das: „Ein Glas Wein pro Schwangerschaftstag würde bedeuten, dass das Baby* während der kompletten Schwangerschaft Alkohol ausgesetzt ist“, erklärt Lepke.
Bessere Prävention als erster Schritt
Expert*innen wie Betroffene* sind sich einig: Der Umgang mit FASD muss sich ändern. Lepke fordert bessere Präventionsarbeit. Ein mögliches Mittel: Polarisierende Bebilderung auf Alkoholflaschen – wie sie bereits seit Jahren auf Zigarettenschachteln prangt. Sie soll darauf hinweisen, dass jeder Schluck Alkohol für immer Schäden am ungeborenen Kind* hinterlassen kann. Hoff-Emden meint außerdem, es müsse mehr Expert*innen geben. Um dazu beizutragen, ist sie weltweit vernetzt, hält Vorträge in Kanada und schreibt Bücher. „FASD ist selbst unter medizinischen und pädagogischen Fachkräften* oft noch zu wenig bekannt“, sagt die Medizinerin. Mögliche Folgen: Wenig präventive Aufklärung, falsche Diagnosen und keine optimale Behandlung. Allerdings tragen nicht nur Fachkräfte*, sondern auch die Partner*innen der Schwangeren Verantwortung: „Keinen Alkohol in der Schwangerschaft zu trinken, sollte ein Lifestyle werden, den die Partner*innen unterstützen, indem sie auch darauf verzichten“.
Mehr Akzeptanz
Lepke sieht das größte Problem am Leben mit FASD in dem Umfeld der Betroffenen*. Selbst unter Lehrkräften* begegnet der Pflege- und Adoptivmutter häufig Unverständnis: „Regelmäßig wird uns Eltern* nicht geglaubt, dass die Kinder* eine ernstzunehmende Behinderung haben, die sie einschränkt. Beispielsweise, weil eine bestimmte Tätigkeit schon einmal geklappt hat oder man ihnen ja nichts ansieht.“ Auch Shannon wünscht sich neben einer besseren Präventionsarbeit mehr Verständnis für sie und andere Betroffene*: „Oft denken Menschen*, dass ich etwas nicht tun will oder faul bin. Meistens kann ich es in dem Moment aber einfach nicht und habe wieder vergessen, wie es funktioniert.“ Ihre leibliche Mutter möchte sie nicht kennenlernen. Jim muss noch darüber nachdenken. Er weiß noch nicht, ob er eines Tages Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen möchte. Was für ihn feststeht: Mit 17 möchte er sich von Katrin Lepke und ihrem Mann adoptieren lassen. Während Lepke von der Säuglingszeit ihrer Kinder erzählt, von Irlandreisen mit der ganzen Familie und dem vergangenen Urlaub in Schleswig-Holstein, vermittelt sie vor allem zwei Dinge: Dankbarkeit und Respekt. Dankbarkeit dafür, Shannon, Jim und ihren Jüngsten als Kinder haben zu dürfen. Respekt empfindet sie für die Entscheidung der leiblichen Mütter*, ihre Kinder wegzugeben, um ihnen in einer anderen Familie ein Leben zu ermöglichen. Wovon sie überzeugt ist: „Keine Mutter* trinkt wissentlich und willentlich während der Schwangerschaft Alkohol, um ihr Kind* zu schädigen. Oft haben die Mütter* selbst große Probleme oder Traumata und schaffen es einfach nicht, nichts zu trinken.“
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Sehr guter Beitrag! Realistisch und doch mit positiven Aspekten!
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Familienleben mit Kindern mit FASD möglich ist! Es ist anders, aber sehr bereichernd!
Toller Beitrag, der Mut macht!!!
Mehr davon!