Georg Baselitz liefert für deutsche Medien ein Motiv zum Tag der Pressefreiheit: eine stürzende Frau in hellen Farben. Lennart Glaser und Sascha Kemper haben Passantinnen und Passanten in Berlin befragt, was sie mit dem Bild anfangen können.
Aufmerksamen Printlesenden dürfte es am 3. Mai 2018 nicht entgangen sein: Bereits im dritten Jahr in Folge haben Zeitungen in ganz Deutschland im Rahmen des Internationalen Tags der Pressefreiheit auf eine ganz besondere Art auf das Thema Freiheit der Medien und der Presse aufmerksam gemacht. Auf eine Initiative des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) hin druckten viele Blätter – von der Südwest Presse bis zur Nordsee-Zeitung – auf ihren Titelseiten das Werk „Frau am Abgrund“ des deutschen Malers und Bildhauers Georg Baselitz ab, der sein 1998 erschaffenes Kunstwerk für diesen Zweck zur Verfügung stellte. Baselitz folgt damit dem Beispiel Yoko Onos und Ai Weiweis, die im vergangenen Jahr und 2016 als Stiftende von Bildern für die Aktion fungierten.
Auf dem Bild sieht man eine Frauengestalt kopfüber auf blauem Hintergrund und deren Schatten, der von ihren Füßen aus rechts ins Bild ragt. Angelehnt ist das Bild an Caspar David Friedrichs „Frau mit Raben am Abgrund“, erkennbar an den Initialen Friedrichs, die Baselitz vor seiner eigenen Signatur verewigt hat. Dass „Frau am Abgrund“ ein frühes Werk Baselitz‘ ist, zeigt die Tatsache, dass die abgebildete Gestalt stürzend dargestellt ist. Genau das führt aber zu einem interpretatorischen Paradoxon: Obwohl das Motiv und der Titel Dramatisches transportieren, wirkt das Bild durch die bunte Farbgebung positiv, ja bisweilen sogar fröhlich.
Genau das löste bei einigen Passantinnen und Passanten, denen wir Fragen zu dem Bild gestellt hatten, Irritationen aus. Weder eine Assoziation zum Titel, geschweige denn eine Querverbindung zum Thema Pressefreiheit könne sie herstellen, sagte eine der Befragten. Sie verbinde mit dem Bild eher etwas Positives. Anderen Personen fiel es sogar schwer, allgemeine Ideen zu dem Bild zu formulieren.
Nach Angaben des BDZV möchte Georg Baselitz selbst aber gar keine Interpretation seines Werks vorgeben, er überlässt diese Aufgabe den betrachtenden Personen selbst. Angesichts der aktuellen „MeToo“-Debatte fiel diese Assoziation im Gespräch mit den Passanten und Passantinnen häufig: Das Bild zeige die Benachteiligungen und Schwierigkeiten von Frauen im Journalismus auf.
Eine Person zog eine Parallele zwischen Kunst- und Pressefreiheit, die sie in Baselitz Werk vermutete. Beide seien für eine Gesellschaft unverzichtbar und müssten vor Einschränkungen und Repression geschützt werden. In einem Zitat Baselitz‘, das den Tageszeitungen gemeinsam mit dem Bild zur Verfügung gestellt wurde, spricht er genau diese Thematik an: „Presse und Kunst gehören nicht in die Obhut des Staates. Wer anderes propagiert, manövriert die freie Gesellschaft ins Verderben.“
Ähnlich formuliert es der Hauptgeschäftsführer des BDZV, Dietmar Wolff. Er mahnt, der Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit sei nicht Sache der Medien allein, sondern der Gesellschaft insgesamt. „Wir können die Verteidigung dieses wunderbaren, demokratiestiftenden Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit nicht delegieren, nicht an Journalisten und auch nicht an den Staat.“