Ulli Nissen (SPD) stellte auf dem #EPjugendforum in Wiesbaden in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme dar: Sie ist die einzig vertretene Frau auf dem Podium und das auch nur, weil der Europapolitiker Udo Bullmann kurzfristig absagen musste. Zum anderen ist Nissen die erste Bundestagsabgeordnete, die die Europadebatte besucht. Wie sie von Berlin aus die EU betrachtet und welche Ideen sie für stärkere Jugendbeteiligung hat verriet sie Aleyna und Mehtap im Interview.
Hallo Frau Nissen, seit wann sind Sie schon politisch aktiv?
Seit ich 12 Jahre alt bin. Ich bin also bereits seit 46 Jahren politisch aktiv.
Gab es einen besonderen Anlass oder ein wichtiges Ereignis in Ihrem Leben, die Sie bewogen haben in die Politik zu gehen?
Was ich nicht ertragen konnte ist das Thema Nazizeit: Wie konnte so etwas passieren? Wieso hat die Welt zugeschaut? Wieso haben die Menschen nichts gesagt? So etwas darf nie wieder passieren. Das war ein ganz wichtiger Aspekt, der mich erschüttert hat. Dieser Gedanke hat auch noch etwas mit meinen heutigen politischen Überzeugungen zu tun: Ich selbst hatte das große Glück, gutbürgerlich aufzuwachen, hab alle Unterstützungen von zuhause bekommen, durfte alles machen außer zwei Dinge: zu spät kommen und lügen. Alles andere durfte ich. Papa war eher stolz auf mich, wenn ich mich gewehrt habe. Da fällt mir immer wieder eine Geschichte ein: Es war eine Klassenfahrt, meine Französischlehrerin sagte zu einer Klassenkameradin: ‚Was willst du hier auf dem Gymnasium, dein Papa ist doch nur einfacher Arbeiter.‘ Das habe ich dann meinem Papa erzählt – und ich war sehr schlecht in Französisch. Er hat dann diese Lehrerin angerufen und sie zur Schnecke gemacht. Da war ich sehr stolz auf ihn, dass er nicht gesagt hat, meine Tochter ist schlecht in dem Fach und deshalb muss ich nett zu der Lehrerin sein. Das hat mich auch sehr geprägt, eben nicht zu gucken, ob es mir dadurch schlechtgehen kann, wenn ich mich wehre, sondern es einfach zu machen.
Werte passen gut zum Thema, denn PolitikerInnen reden viel über europäische Werte. Was bedeutet das überhaupt für Sie und wo begegnet Sie ihnen im Alltag?
Mit etwa zwanzig Jahren hab ich meinen ersten Bildungsurlaub gemacht und das war ein ganz tolles Erlebnis für mich. „Congress and Freedom in Future“ hieß der Kongress in Dänemark, wo die Jugend aus Europa zusammengekommen ist. Für euch sind Grenzen innerhalb von Europa nicht existent, die kennt ihr gar nicht mehr. Aber ich bin an der holländischen Grenze aufgewachsen und musste immer meinen Ausweis zeigen, wenn ich rüber wollte. Was die heutige Freiheit nun an Freundschaft und Frieden bedeutet, das ist etwas Großes. In den vergangenen Jahren hat sich das ein wenig verändert, das macht mir auch Angst.
Europa war früher ein Friedensprojekt. Bei Pulse of Europe bin ich auf fast jeder Kundgebung vor Ort in Frankfurt und sage: Europa ist wirklich etwas ganz wichtiges. Das sehen wir jetzt bei den britischen Jugendlichen, nämlich dass sie doch besser zur Abstimmung gegangen wären, um sich diese Freiheiten mit zu erhalten. Gemeinsam sind wir stark – das sind meine europäischen Werte.
Den Brexit haben sie gerade schon angesprochen. Wie schätzen Sie denn den aktuellen Stand in Europa ein und was gibt es Ihrer Meinung in den nächsten Jahren noch zu tun?
Im Augenblick wird der neue europäische Haushalt zusammengestellt. Da geht es ja auch um die durchaus sinnvolle Diskussion, ob Länder wie Polen oder Ungarn, die sich nicht mehr an unsere politischen Werte, wie zum Beispiel auch Pressefreiheit halten, können die weiter finanziell unterstützt werden. Auch die Flüchtlingsaufnahme ist so ein Thema: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deshalb erwarte ich dann auch, dass wenn Länder ein Teil von der EU sein wollen, dass sie sich nicht isolieren sondern mitmachen. Gerade was das Thema Presse bzw. Pressefreiheit angeht finde ich unerträglich, was dort stattfindet und da vertrete ich auch die Meinung, dass man so etwas mit Geldstrafen versehen müsste.
Denken Sie, dass unsere heutige Generation die künftige Politik beeinflussen und bewirken kann? Wir sehen ja, dass viele PoltikerInnen eher älter sind. Wie kann die Jugend dabei besser repräsentiert werden?
Also ich sehe ja bei uns in der Bundestagsfraktion, dass wir schon einige junge Menschen dabei haben, insbesondere junge Frauen. Da hat sich durchaus etwas verändert. Es gibt natürlich andere Fraktionen, so wie die von der Partei, dessen Namen wir nicht nennen wollen, da sieht das natürlich anders aus.
Ein Problem ist, dass sich die Forderung nach „jünger“ meistens auf die Frauen bezieht, nicht auf die Männer und das ärgert mich schon ein bisschen. ‚Jung‘ ist etwas ganz wichtiges, aber jung allein kann es auch nicht sein. Es muss eine gute Mischung sein. Ich habe vierzig Jahre lang ehrenamtlich Politik gemacht, bevor ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe. Ich meine, wenn mir da nun jemand sagen würde, ich sei jetzt zu alt, würde ich das auch blöd finden. Es braucht eben eine gesunde Mischung, denn die Erfahrung der Älteren ist wichtig, aber auch von euch Jüngeren werden andere Gedanken und Ideen eingebracht. Eure Sorgen, eure Ängste sind ja vielleicht ganz andere als die, die wir gehabt haben. Deshalb ist es nicht nur wichtig, unterschiedliche Generationen und Geschlechter, sondern auch unterschiedliche Berufe mit in der Politik zu haben.
Auch das Thema Frieden, das intensive dafür Einsetzen, ist ein Kampf. Ich habe mir früher keine Sorgen um Europa gemacht. Gerade heute habe ich gelesen, dass die EU 15.000 Interrail-Ticktes verschenkt an junge Menschen. Das kann man ab Juni beantragen. So lernen junge Menschen Europa auch mal anders kennen, was in anderen Ländern passiert, wie dort die Kommunikation funktioniert. Das persönliche vor Ort sein bringt so viel mehr als Kontakt über das Internet. Man sieht die Welt ganz anders, wenn man persönlich mit anderen Menschen ins Gespräch kommt.
Was denken Sie, wie nachhaltig kann so ein Jugendforum sein für die politische Arbeit? PolitikerInnen sagen ja oft, dass die Jugend unendlich wichtig sei, doch wie können ihre Ideen und Meinungen auch in die reale Politik einfließen?
Dazu wäre es sinnvoll zu sagen, wir machen eine Nachkontrolle und treffen uns in einem halben Jahr wieder, um zu schauen, was davon umgesetzt wurde. Denn man braucht auch den Druck. Wir haben ganz viele Termine, deshalb braucht man diesen Druck. Durch eine sogenannten Erfolgskontrolle könnte die Nachhaltigkeit hergestellt werden. Es ist nicht unbedingt böse gemeint, dass die Menschen das von sich aus nicht tun – deswegen muss es in meinem Kalender steht und es zu einem regelmäßigen Austausch kommt.
Das Problem dabei ist aber auch, dass es Erwachsene braucht, die diesen Druck ausüben, weil die Jugend allein formell nicht diese Macht besitzt. Denken Sie, dass sich auch die allgemeine Einstellung und Begeisterung der Jugend für Politik ändern würde, wenn sie stärker und wirklich ernsthaft mit einbezogen werden würde?
Ja, ich glaube ohne Druck geht es nicht, dass dieser Gedanken mit aufgenommen wird. Vielleicht habt ihr inzwischen mal Interrail gemacht und noch einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Das ist auch für uns sinnvoll, das man selbst da noch einmal nachfragt, was ihr denn daraus mitgenommen habt.