Die Debatte um rassistische Begriffe in Kinder- und Jugendliteratur hatte 2013 ihren Höhepunkt in Deutschland erreicht. Was ist heute von der Diskussion geblieben? Yannic Walther hat nachgeforscht.
Ein „Zeit“-Interview mit der damaligen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder löste 2013 eine Debatte über Diskriminierung in Kinderliteratur aus. Schröder erklärte, sie würde ihrer Tochter Wörter wie „Negerkönig“ zeitgemäß übersetzen. Ihr Kind solle keine rassistischen Ausdrücke gebrauchen, die in Klassikern wie „Pippi Langstrumpf“, „Jim Knopf“ oder „Die kleine Hexe“ auftauchen. Später wolle Schröder ihrer Tochter erklären, „was das Wort ‚Neger‘ für eine Geschichte hat und dass es verletzend ist, das Wort zu verwenden“.
Unlängst hat nicht nur bei Eltern, sondern auch bei Verlagen ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Den „Negerkönig“ hätte Schröder mit der Neuauflage nicht mehr selbst übersetzen müssen. Der Kapitän und Vater der Romanheldin Pippi Langstrumpf aus Astrid Lindgrens gleichnamigen Roman wurde mit der Ausgabe von 2009 in einen „Südseekönig“ umbenannt. Auch in Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ verschwand das N-Wort im Zuge einer 2013 vorgenommenen Anpassung an den modernen Sprachgebrauch. Eine einheitliche Vorgehensweise, wie mit umstrittenen Begriffen verfahren werden soll, gibt es bis jetzt allerdings noch nicht. In der 2015 erschienen Jubiläumsausgabe von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ wurde das N-Wort beibehalten.
Die Überarbeitung von Buchklassikern wurde kontrovers diskutiert, Kritiker sprachen von „Zensur“ und von einem „Vergehen an der Literatur“. Der Journalist und Literaturkritiker Ulrich Greiner gehört zu den Gegnern der veränderten Versionen. Er traut Kindern durchaus zu, dass sie rassistische Wörter kritisch hinterfragen. Man müsse sie „Erfahrungen mit der Geschichtlichkeit von Texten sammeln“ lassen. Niemand werde wegen Kinderbüchern rassistisch.
Wolfgang Benz, der bis 2010 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin war, sieht das anders. Früh erlernte stereotype Bilder würden das Weltbild Erwachsener maßgeblich beeinflussen. Als Beispiel nennt er den damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble. Auf der ersten deutschen Islamkonferenz gab Schäuble 2010 zu, dass sein Bild des Islams ursprünglich durch die Bücher von Karl May geprägt wurde.
„Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt, wenn ich das Wort lesen oder hören muss.“
In einem Brief an die „Zeit“-Redaktion schilderte die damals neunjährige Leserin Ishema Kane 2013 ihre Erfahrungen mit Rassismus in Kinderbüchern: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt, wenn ich das Wort lesen oder hören muss. Es ist einfach nur sehr, sehr schrecklich. Mein Vater ist kein Neger und ich auch nicht. Das selbe gilt für alle anderen Afrikaner!“
Doch es geht nicht nur um einzelne Wörter, auch struktureller Rassismus ist ein Problem in Kinderbüchern. Positive und negative Rollenbilder können mitunter nah beieinander liegen. In Pippi Langstrumpf sah die Frauenbewegung ein literarisches Vorbild. Pippi ist rebellisch, übermenschlich stark und selbstständig. Figuren, die sich gegen autoritäre Strukturen wehren, gab es in den Kinderbüchern der Nachkriegszeit, die oft vom braven Nachwuchs handelten, nicht.
Die Erziehungswissenschaftlerin Maisha-Maureen Auma fragt sich, ob „Pippi Langstrumpf“ diese Emanzipation nur weißen Kindern vorlebt. In einem Artikel hat sie Passagen der dreiteiligen Buchreihe aufgezählt, die ein koloniales Weltbild widerspiegeln. So erzählt Pippi in Schweden Reisegeschichten von Kenia, wo es „keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt“, und träumt von ihrem zukünftigen Leben als „Negerprinzessin“. Ihr Vater, Kapitän Langstrumpf, gestrandet auf einer Südseeinsel, hat sich unlängst zum König über die dortige Schwarze Bevölkerung ernannt.
Moderne Romane schaffen positive Identifikationsmöglichkeiten für Kinder aller Hautfarben.
Dass die literarische und visuelle Wahrnehmung der eigenen Identität eine wichtige Rolle für das Selbstwertgefühl von Kindern spielt, denkt auch die Diplompädagogin Annette Kübler. Wenn in Kindererzählungen weiße Menschen über Schwarze herrschen, beeinflusse das sowohl das Weltbild Schwarzer, als auch weißer Kinder.
In einer Broschüre des Anti-Bias-Netzes erklärt Kübler: „Zur Entwicklung ihrer Berufswünsche orientieren sich Kinder zum Beispiel an den Abbildungen und ziehen ihre Schlüsse daraus. Wenn sie keine Schwarze Pilotin oder keinen Schwarzen Arzthelfer sehen, denken sie, der Beruf ist nicht für sie gedacht.“
Autoren und Verlage versuchen deshalb, in neuen Kinder- und Jugendbüchern positive Identifikationsmöglichkeiten für alle Kinder zu schaffen. Die sogenannten „vorurteilsbewussten“ Kinderbücher brechen mit rassistischen Stereotypen und versuchen, verschiedene Lebensrealitäten zu vermitteln.
Auch der Sommer der Migration 2015 ging nicht spurlos am Büchermarkt vorbei.
So erzählt beispielsweise Peter Härtling in „Djadi, der Flüchtlingsjunge“ von Flucht, Ankunft und Integration. Solche Bücher sollen einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder ohne Migrationshintergrund die Situation der „Neuen“ in Kindergarten und Schulklassen verstehen. Darüber hinaus soll sich die nächste Generation der einstmals Geflüchteten mit den eigenen Familiengeschichten in den Büchern wiederfinden können.
Doch auch in älteren Kinder- und Jugendbüchern lassen sich kritische Auseinandersetzung mit Rassismus finden. In Michael Endes 1960 erstmals veröffentlichtem „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ erklärt der Scheinriese Tur Tur: „Wenn sie selber zum Beispiel weiß sind, dann sind sie überzeugt, nur ihre Farbe wäre richtig und haben etwas dagegen, wenn jemand schwarz ist. So unvernünftig sind die Menschen bedauerlicherweise oft.“