Im Rahmen der Podiumsdiskussion „Wo steht unsere Republik?“ hat Bundestagsvizepräsidentin und Linken-Abgeordnete Petra Pau mit Yannic Walther über Rassismus, den NSU und Identität gesprochen.
Wo steht denn unsere Republik heute?
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Gewalt zur Lösung von politischen Problemen von breiten Schichten der Gesellschaft akzeptiert wird. Das ist aber keine urplötzliche Veränderung. In ganz Europa haben wir es seit Jahren mit der Zunahme von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun. Diese findet ihren Ausdruck in den erstarkten rechtspopulistischen bis militanten rechten Organisationen. Mit der AfD hat der Rechtspopulismus seinen parteipolitischen Ausdruck nun auch im Deutschen Bundestag gefunden. Damit geht eine Geringschätzung unserer demokratischen Werte einher, welche unsere Demokratie mittlerweile ernsthaft gefährdet.
Mit militanten rechten Organisationen haben Sie sich im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags auseinandergesetzt. Der Abschlussbericht wurde im Juni 2017 übergeben. Ist damit die parlamentarische Aufarbeitung abgehakt?
Nein, das Thema darf und wird auch nicht abgehakt werden. Erstens laufen aktuell noch parlamentarische Untersuchungsausschüsse der Bundesländer. Zweitens werden wir als Parlamentarier alle Mittel, die wir haben, nutzen, um Hintergründe weiter zu beleuchten und diese auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Meine Fraktion hat sich im Übrigen dafür ausgesprochen, einen Untersuchungsausschuss zum Thema „Rechtsterrorismus und Geheimdienste“ einzurichten. Dafür fehlt leider aktuell die parlamentarische Mehrheit und der notwendige gesellschaftliche Druck. Vor allem nach dem Urteil im Münchner NSU-Prozess brauchen wir aber diesen öffentlichen Druck. Sonst befürchte ich, dass die Bundesanwaltschaft die zwei noch laufenden Ermittlungsverfahren im Sande verlaufen lässt.
Das Netzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds muss weiter aufgeklärt werden. Denn keiner kann heute behaupten, dass es nicht längst wieder Strukturen wie den NSU gibt.
In Marzahn-Hellersdorf haben Sie sich für Geflüchtete stark gemacht. Wie sieht das politische Klima momentan in Ihrem Direktwahlkreis aus?
Wir hatten in den vergangenen Jahren glücklicherweise weniger öffentliche Proteste gegen Geflüchtetenunterkünfte. Auch die Straf- und Gewalttaten gegen Geflüchtete sind zurückgegangen. Dennoch beobachte ich eine Wiederradikalisierung, sowohl von Bürgerinitiativen als auch von Einzelnen. Das Ganze wird von der Bezirksverordnetenversammlung bis zum Bundestag durch die AfD angefacht. Sie zündeln immer unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, stellen Behauptungen in den Raum und setzen darauf, dass diese wie Brandbeschleuniger auf diejenigen wirken, die bereit sind, Gewalt anzuwenden.
Von diesen Bürgerinitiativen wurden Sie 2015 vor Ihrer Wohnung bedroht.
Wie unterstützen Sie Engagierte, die nicht so gut geschützt sind wie Abgeordnete?
Eine Solidarisierung mit jenen, die sich im Alltag für Demokratie engagieren, reicht nicht aus. Als Mandatsträgerin muss ich vor Ort sein, auch wenn es brenzlich wird. Der Umgang mit der Basis ist mir wichtig, um Probleme rechtzeitig zu erkennen. Allein kann ich aber nur begrenzt unterstützen. Ich würde mir wünschen, dass die Medien mehr über das enorme Engagement der vielen hundert Freiwilligen berichten, die sich bei mir im Bezirk für Demokratie und ein besseres Zusammenleben stark machen – anstatt immer wieder Reportagen zu machen über ein und denselben Neonazi.
Auch in Ihrer Partei „Die Linke“ gibt es Debatten über den Umgang mit Geflüchteten. Ihre Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht hat die Entscheidung der Essener Tafel verteidigt, nur noch „Deutsche“ als Neukunden aufzunehmen. Wo ist für Sie die Grenze linker Politik erreicht?
Zuschreibungen, dass manche Gruppen von Migranten ein „Nehmer-Gen“ hätten, wie sie der Chef der Essener Tafel, Jörg Santor, geäußert hat, sind für mich schlichtweg rassistisch. Das muss auch als rassistisch benannt werden, egal, wer so etwas äußert.
Andererseits hat Sahra Wagenknecht recht, dass nicht die einen Armen gegen die anderen Armen ausgespielt werden dürfen. Genauso wie sie kritisiere ich, dass der Staat seine Aufgabe der Daseinsvorsorge nicht an Ehrenamtliche auslagern kann.
Die aktuelle Ausgabe der politikorange befasst sich mit „Rassismus und Identität“. Was hat Ihre Identität beeinflusst?
Ich habe im September letzten Jahres genau 27 Jahre als Bürgerin der DDR verbracht und ebenso viele Jahre als Bürgerin der Bundesrepublik. Diese Vergangenheit prägt einen. Sie ist aber gleichzeitig auch Antrieb, mich für Bürgerrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit stark zu machen. In der DDR wurde versucht, im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Gleichzeitig wurden Demokratie und Bürgerrechte suspendiert. Beides muss aber als zwei Seiten ein und derselben Medaille zusammen gedacht werden. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisiere ich es auch, wenn heute im Namen der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung oder im Umgang mit Geflüchteten Bürgerrechte eingeschränkt werden.
Auch in der DDR gab es Rassismus. Was haben Sie davon mitbekommen?
Eine vietnamesische Freundin von mir war eine der sogenannten Vertragsarbeiterinnen. Vietnamesische Frauen und Männer durften weder heiraten noch Kinder bekommen. Wer schwanger war, wurde ausgewiesen. Sie wurden somit auch ihrer Bürgerrechte beraubt. Diese institutionelle Form von Rassismus haben manche als Legitimation für eigene Diskriminierungen aufgefasst. Wer sagt, er habe solchen Rassismus nicht mitbekommen, muss schon ziemlich gefühlskalt sein.
Andererseits gab es auch Rechtsextremismus. Eines der schlimmsten Beispiele ist der Überfall von Ost- und Westberliner Skinheads auf ein Punkkonzert in der Zionskirche 1987. Solche Fälle wurden in der DDR vertuscht, weil nicht sein durfte, was nicht sein sollte im antifaschistischen Staat. Diese Realitätsverweigerung ist zum Teil auch verantwortlich für die Wurzeln derer, die heute ihren Rassismus ausleben.