Sie fragt. Er fragt.

Von Wahlplakaten über die Berichterstattung bei Wahlparties bis zu den Diskussionen der Wahlergebnisse: Ina Brechenmacher und Zakarya Ibrahem haben die Bundestagswahl davor, währenddessen und danach miterlebt. Jetzt unterhalten sie sich – über Demokratie, Freiheit und Wählen. Ina war schon fünf Mal wählen, Zakarya noch nie. 

Ina Brechenmacher und Zakarya Ibrahem unterhalten sich – über Demokratie, Freiheit und Wählen. Foto: Omar

 

Ina: Zakarya, wann hast du in Syrien das erste Mal gemerkt, dass du nicht frei bist?

Zakarya: Als die Krise in Syrien angefangen hat, habe ich etwas auf Facebook gepostet. Ich habe geschrieben, dass sich die Regierung und die Opposition zusammensetzen sollten, um eine Lösung zu finden. Aber niemand hat auf mich gehört. Im Gegenteil: beide Seiten haben mich kritisiert. Danach wollten sie mich verhaften. Vorher war mir nicht so klar, dass ich nicht frei bin.

Ina: Aber warum ist dir das nicht schon vor der Revolution aufgefallen?

Zakarya: Darüber habe ich nicht wirklich nachgedacht und ich habe auch nicht gefragt. Ich dachte, dass das normal sei. Und ich habe es akzeptiert.

Ina: Fühlst du dich denn in Europa frei?

Zakarya: Im Großen und Ganzen fühle ich mich frei. Aber es gibt natürlich gesellschaftliche Konventionen, an die ich mich halten muss.

Ina: Und wie sieht es mit der politischen Situation aus?

Zakarya: Hier darf ich meine Meinung sagen. Egal welche Meinung man hat, Leute respektieren dich. Die Parteien respektieren einander. In Deutschland kann jede Person sogar eine Partei gründen. Schau dir nur die Bundestagswahlen an. Es gab unglaublich viele Parteien: zum Beispiel die Tierschutz-Partei oder die Marxistisch-Leninistische Partei. Das ist großartig.

Ina: Wie sieht denn die Situation in Syrien aus?

Zakarya: Wenn ich in Syrien eine Partei gründen wollte, könnte ich das nicht, weil niemand mich unterstützen und die Regierung mir das nicht erlauben würde. Offiziell gibt es eine Opposition. Praktisch gibt es aber nur eine Partei. Die Baath-Partei. Ein Erlebnis beschreibt die Situation ganz gut. Einmal kam kurz vor dem Schulabschluss ein Mann aus meinem Dorf in meine Klasse. Er forderte uns alle auf, Mitglied in Assads Partei, der Baath-Partei, zu werden. Das würde uns helfen, mehr Punkte in der Abschlussprüfung zu bekommen. Die ganze Klasse hat das gemacht.

Ina: Du auch?

Zakarya: Ich auch. Ich wollte ebenfalls mehr Punkte haben.

Ina: Warst du dann überhaupt schon einmal wählen?

Zakarya: Nein. Man kann zwar wählen gehen, aber alle wissen schon vorher, wer gewinnt. Denn die Leute, die am Wahltag wählen, tun dies, weil sie beispielsweise vorher ein bisschen Geld, Öl oder Reis von Kandidatinnen und Kandidaten bekommen haben. Es steht nur auf dem Papier, dass Syrien eine Demokratie ist. Ich bin ein bisschen eifersüchtig auf die Demokratie in Deutschland. Das wünsche ich meinem Land auch. Ich will auch wählen.

Ina: Also findest du, dass die Demokratie in Deutschland funktioniert?

Zakarya: Es gibt kein perfektes Land. Aber wenn die Leute zufrieden sind, dann funktioniert sie. Man könnte es besser machen, wenn wir zusammenarbeiten. In Syrien sagen wir, eine Hand klatscht nicht ohne die andere.

Zakarya: Bist du denn zufrieden mit dem politischen System in Deutschland?

Ina: Ich finde es total schwierig, dir jetzt zu antworten. Nachdem ich mehr über das System in Syrien erfahren habe, fühlt es sich an, als würde ich mich auf einem sehr hohen Niveau beschweren. Weißt du, was ich meine? Ich würde mir wünschen, dass sich viel mehr verändert. Es war mir zum Beispiel schon lange klar, dass Angela Merkel wiedergewählt wird. Die Nachteile sind versteckt. Und sie sind nicht so offensichtlich wie Verbote. Das verhindert, glaube ich, dass Menschen aktiv werden.

Zakarya: Hast du dann mit Blick auf die Wahlergebnisse keine Angst, dass sich Deutschland zu einer Diktatur entwickeln könnte?

Ina: So viel Vertrauen habe ich dann doch in das deutsche System, dass das verhindert werden kann. Nach der Zeit des Nationalsozialismus wurde das politische System so gebaut, dass das so schnell nicht mehr passieren kann.

Zakarya: Das ist der Unterschied. Wir vertrauen unserer Regierung nicht. Aber hier vertrauen die Menschen der Regierung. Wie erklärst du dir dann die oft niedrige Wahlbeteiligung in Deutschland?

Ina: Ich glaube, viele denken, dass sie keinen Einfluss haben. Sie leben in Stabilität und sie wissen, dass sich nicht viel daran verändern wird.

Zakarya: Es ist komisch: In Syrien gehen wir nicht wählen, weil wir die Ergebnisse kennen. Hier gehen sie nicht, weil sich nichts verändert.

Das syrische Parlament:
In das syrische Parlament, dem Madschlis asch-Scha‘ab (auf Deutsch Volksrat, A.d.R.), werden alle vier Jahre 250 Abgeordnete gewählt. Die Mehrheit der Sitze ist laut Verfassung für die Partei vorgesehen, die die „Interessen der Arbeiterklasse“ vertritt. In Syrien gibt es dafür – im Gegensatz zu Deutschland – lediglich eine reine Personenwahl. Außerdem findet die Wahl des Präsidenten alle sieben Jahre und damit nicht parallel zur Wahl des Parlaments statt. Während dafür früher jeweils ein Kreuz bei Ja oder Nein ohne Gegenkandidatin oder -kandidat gemacht wurde, ist laut der letzten Verfassungsänderung eine Entscheidung zwischen verschiedenen Kandidat*innen notwendig. Jede Person, die über 18 Jahre alt ist, die syrische Staatsbürgerschaft besitzt und der das Wahlrecht nicht aberkannt wurde, darf an diesen Wahlen teilnehmen. Das passive Wahlalter liegt dagegen bei 25 Jahren. Zurzeit dominiert die Nationale Progressive Front, ein Bündnis aus der Baath-Partei mit Blockparteien, das syrische Parlament. De facto herrscht in Syrien damit ein Einparteiensystem, da die Blockparteien von der Baath-Partei abhängig sind, weil diese die Mehrheit in der Nationalen Progressiven Front bildet. Politische Unterdrückung und Gewalt sind die Mittel, um den Machterhalt auch weiterhin durchzusetzen.


Dieser Artikel wurde im Rahmen der „Yalla Media Akademie” gemeinsam von Ina Brechenmacher und Zakarya Ibrahem verfasst. Hier lernen Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten, den Redaktionsalltag kennen und Artikel zu schreiben. Auf Arabisch erscheint dieser Artikel bei Eed Be Eed.

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