Martin Schulz überraschte die Politiklandschaft, indem er alleine mit seiner Person der SPD zu deutlichem Aufschwung verhalf. Kurz vor der Wahl polarisiert er immer noch Deutschland. Den Hype um Martin Schulz ist Linda Göttner auf den Grund gegangen und hat seine Wahlkampfrede in Münster beobachtet.
Im März ist die Begeisterung für Schulz auf dem Höhepunkt. SPD-Bundestagsabgeordnete schwärmen im Gespräch mit mir beim Jugendmedienworkshop vom lang ersehnten Imagewandel der SPD, beschert durch Martin Schulz. Schnell etablieren sich die Bezeichnungen Schulz-Hype, Schulz-Effekt oder Schulz-Zug für das neue Phänomen der SPD. Den Hype will ich selbst erleben und sehen, ob Schulz wirklich so authentisch ist, wie seine Anhänger behaupten.
Ich fahre in meine Studienstadt Münster, wo Martin Schulz am 6. September seine Wahlkampfrede im Rahmen des Münsterländer SPD-Wahlkampfes hält. Wie viele andere bin ich eigentlich nur wegen ihm gekommen und auch wie viele andere, habe ich mich an die Uhrzeit auf den Plakaten gehalten. 17:00 Uhr, Stubengassen Platz. Doch die SPD wollte wohl sichergehen, dass es alle rechtzeitig schaffen, ich muss nämlich noch zwei Stunden auf den Star der SPD warten und versuche währenddessen auszumachen, wer wirklich SPD-Anhänger ist und wer nur wegen Schulz da ist.
Schulz wählen, nicht nur die SPD
So treffe ich auf dem Platz auf andere Studiernde, die bei den Jusos sind. Sie sind es, die vorschlagen, die Zeit bis zum Schulz-Auftritt in einem Café zu überbrücken. Beim Kaffee kommt es dann raus: Die Truppe ist weniger politisch aktiv und eher Mitglied auf dem Papier. Aber Schulz-Fan sind sie. Einer gibt sogar zu: „Ich wähle die SPD nur wegen Schulz“.
Vor der Wahlkampfbühne hat sich inzwischen der Platz gefüllt und es ist winterlich kalt geworden. Dann ertönt der „Imperial March“ aus Star Wars, die SPD will das Publikum wohl in den Bann ziehen. Wir halten Ausschau nach Schulz. Ob er denn jetzt kommt, der galaktische Ritter. Doch wir müssen warten. Denn Schulz bahnt sich erst zu Coldplays „Viva la Vida“ seinen Weg durch die Masse. Und er wird von den SPDlern bejubelt wie der Sänger Chris Martin selbst. Ich frage mich, ob schon einmal wer den Songtext des Liedes angesehen hat? „Never an honest word. And that was when I ruled the world.“ Das Lied handelt nämlich von der nicht erstrebenswerten Macht eines Königs. Aber die epische Melodie des Liedes reichte wohl aus. Für die Masse scheint vielmehr zu zählen, dass der von ihnen ernannte Gottkanzler keine unnahbare Figur auf der Bühne, sondern wortwörtlich zum Anfassen ist. Einer, dem jeder die Hand schütteln kann und der sich im Bad der Masse Zeit für Selfies nimmt.
Angela versus Schulz
Zur Bundestagwahl 2017 gestaltet sich der Wahlkampf zwischen den Spitzenkandidaten der SPD und CDU anders als bei vorherigen Wahlen. Während die CDU auf ihre altbewährte Angela Merkel setzt, versucht die SPD ein neues Modell: einen Hype um einen Kandidaten, der auch der Popkultur entstammen könnte. Nachdem Martin Schulz Ende Januar einstimmig zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt wurde und auch noch den Parteivorsitz übernahm, entfesselte sich eine Welle der Begeisterung für Schulz und so auch die Partei. Es scheint, als solle er die SPD wie ein Messias aus der Krise retten. Die SPD verzeichnet daraufhin in kurzer Zeit zahlreiche Parteieintritte und die Umfragewerte nehmen um zehn Prozent zu.
Plötzlich ruft einer aus dem Publikum: „Schulz wir lieben dich!“ Schulz erntet Zustimmung, indem er sich selbst während der gesamten Rede nicht zu ernst nimmt. Er lacht über Kritiker und Kritikerinnen, die sich über seinen Anzug von der Stange, seine Glatze, seine Kassengestell-Brille oder seine Ausbildung zum Buchhändler belustigen. Schulz als Durchschnittsbürger. Damit grenzt er sich von der Elite ab. Obwohl, dazugehören tut er ja jetzt eigentlich auch, aber dennoch baut er so Distanz zu den Bürgern ab. Strategisch kombiniert mit den Ausbildungsberufen, die er attraktiver machen möchte, hat er das Publikum damit auf seiner Seite. Es scheint, als lachten sie über die Witze eines Freundes und einer Freundin, den oder die sie schon lange kennen. Ich ertappe mich dabei, wie ich auch schmunzeln muss. Selbstironie hat der Schulz schon drauf. Dabei schafft er es, sich als einer von den Politikern zu präsentieren, obwohl er sich als Bundespolitiker noch gar nicht richtig beweisen konnte. Das bot ihm aber auch weniger Angriffsfläche für Kritik, was ihm den Vorteil einspielt, dass sich die meisten erst einmal vorurteilsfrei auf ihn einlassen.
Im Gegensatz zu Angela Merkel schafft Schulz sofort Nähe zu seinen potenziellen Wählern und Wählerinnen, indem er sie duzt. Als er nun auf der Bühne das Kanzlerduell anspricht, verschluckt er sich plötzlich und einige halten kurz den Atem an. Hat er jetzt Unsicherheit gegenüber Merkel preisgegeben? Der Kern seiner Strategie hätte jedoch performativ nicht besser hervorgehoben werden können. Schulz redet über alle Themen in Abgrenzung zu Merkel und setzt auf den Angriff als beste Verteidigung, wie er es bereits beim Kanzlerduell getan hat. Zwar positioniert er sich inhaltlich auch deutlich für beispielsweise die gesicherte Rente ab 67 Jahren, die Gebührenfreiheit in der Bildung oder gegen den Einfluss Erdogans in Deutschland. Wie er das umsetzen möchte, sagt er allerdings nicht. Inhaltlich konkrete Pläne für die Zukunft legt Merkel allerdings auch nicht vor und versucht eher durch ihre Regierungsarbeit zu überzeugen.
Ob Schulz-Effekt zum SPD-Sieg führt, bleibt fraglich
Dies spiegelt wohl wieder, warum die Umfragewerte der SPD erst in die Höhe schnellten und dann beinahe wieder auf den Wert vor Schulz Kanzlerkandidatur sanken. Die SPD richtete ihre Strategie zunächst erfolgreich auf den Personenhype um Schulz. Sie brüstet sich mit ihrer neuen Galionsfigur, die das Ruder rumreißen sollte. Und so nahm nicht nur innerhalb der SPD der Schulz-Zug Fahrt auf. Martin Schulz wurde schnell zum #Gottkanzler gekürt und der sogenannte Schulz-Effekt wurde eher unabsichtlich aber auch medial katalysiert. Es folgte lange Zeit nichts. Bis Schulz als neuer Kanzlerkandidat seine Forderungen nach mehr Gerechtigkeit inhaltlich konkretisierte und das Regierungsprogramm von der SPD beschlossen wurde, vergingen knapp fünf Monate. Viele, die Hoffnungen in Schulz gesetzt hatten, landeten auf dem Boden der Tatsachen. Ein Messias ohne Regierungsprogramm war dann doch enttäuschend, wobei ein „Viva la Vida“, ohne auf den Inhalt zu achten, dann noch akzeptiert wurde. Noch dazu verlor die SPD Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und im Saarland. Dass Schulz sich während des Wahlkampfes in Nordrhein-Westfalen völlig zurückhielt, wurde ihm später vorgeworfen.
Mit seinem nahbaren Auftritt erntet Schulz viele Sympathiepunkte. Die Umfragewerte der SPD sehen kurz vor der Wahl jedoch mager aus. Mit 22 Prozent laut Emnid-Umfrage vom 16. September liegen sie nicht nur wieder beim gleichen Wert wie vor dem Hype im Januar, sondern auch weit ab von der CDU, die hat 36 Prozent. Die Strategie des vorwiegend inszenierten Hypes um Schulz scheint nur zeitweise zu funktionieren. Als neues Aushängeschild verhalf Schulz der SPD kurzfristig zu einem besseren Image. Die Welle der Begeisterung für ihn ist jedoch abgeflaut, denn einem oberflächlichen Hype müssen Taten und Lösungen folgen. So kurz vor der Wahl scheint Martin Schulz Deutschland nicht mit einer Wechselstimmung zu überrollen. Und es wird sich zeigen, ob sich die SPD und Schulz selbst mit einem personenfokussierten Wahlkampf am Ende einen Gefallen getan haben.
In seiner Wahlkampfrede an jenem Abend gibt Schulz aber noch nicht auf und bezeichnet sich selbst immer wieder als Kämpfer. Auch als Kanzler betitelt er sich mehrmals, und zwar nicht im Konjunktiv. Nach einer Stunde erreicht die Rede ihren Höhepunkt, als Schulz sich für ein „europäisches Deutschland und kein deutsches Europa“ ausspricht. Damit erhält er den bislang größten Applaus, Pfiffe, einige rufen, dass sie ihn unterstützen. Es dämmert bereits, als Schulz seine Rede mit deutlicher Verlängerung beendet. Es ertönt wieder „Viva la Vida“, Schulz strahlt im Scheinwerferlicht der Bühne und die sitzenden SPD-Mitglieder erheben sich zu langanhaltenden Standing Ovations.