Importierter Antisemitismus – oder wie die radikale Rechte den Gazakrieg nutzt, um selbst antimuslimischen Rassismus zu betreiben

In Gaza tobt der Krieg. Wann immer ein Krieg herrscht, in den auch Israel involviert ist, gibt es auch in Deutschland starke Reaktionen. Bürger*innen protestieren, Parteien mobilisieren sich, Politiker*innen solidarisieren sich. Vor allem die populistische Rechte aber polarisiert durch ihre öffentlichen Äußerungen bezüglich der Gewalt in Westasien. Carsten Koschmieder, Politologe am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, erklärt die Verflechtungen zwischen Antisemitismus und Rechtsradikalismus.

Dr. Carsten Koschmieder:

Antisemitismus gibt es überall in der Gesellschaft, nicht nur unter Rechtsradikalen oder Rechtsextremisten, aber Antisemitismus ist immer und überall auf der Welt konstitutiv für Rechtsextremismus. Es gibt keinen Rechtsextremismus ohne Antisemitismus.

Am 22. Oktober postet der Vorsitzende der größten deutschen Oppositionspartei Friedrich Merz
(CDU) auf X, vormals Twitter:

Tweet von Friedrich Merz. Foto: Friedrich Merz, X

Seine Äußerung polarisiert gleich zweierlei. Erstens, instrumentalisiert er die fatale Menschenrechtslage in Gaza, um sich in bewährter konservativer und populistischer Manier gegen die Aufnahme von arabischen Geflüchteten auszusprechen. Gleichzeitig rechtfertigt er seine Bemerkung fast beiläufig, indem er migrantische, junge Männer in Deutschland pauschalisiert als antisemitisch bezeichnet. Friedrich Merz, der in der Vergangenheit häufiger durch rechte Äußerungen auffiel, wird oft dem rechten Flügel der CDU zugeordnet.

politikorange: Was halten Sie von Merz‘ Aussage?

Koschmieder: „Was er in diesem Post bewusst weglässt, ist natürlich, dass wir auch ein großes Problem mit Antisemitismus unter Deutschen haben, die Franz und Thomas heißen, (und deren Eltern schon Franz und Thomas hießen,) und das tut er – wie viele andere – systematisch, um das Problem zu externalisieren. Es wird behauptet, Antisemitismus sei kein Problem von uns, weißen Deutschen, sondern ein Problem von denen. Das ist empirisch falsch und in vielen Studien belegt, dass wir in der deutschen Gesellschaft Antisemitismus vorfinden. Es ist eine bewusste Strategie, um sich selbst zu entkriminalisieren und zu behaupten, das eigentliche Problem sind nicht wir, sondern die anderen. Dieses Verhalten sehen wir oft – wenn es beispielsweise um migrantische Gewalt gegen Frauen geht. Wir haben es also keineswegs mit einem neuen Phänomen zu tun. Beunruhigend ist es trotzdem, denn wenn der Chef der größten Oppositionspartei im Bundestag, die in aktuellen Umfragen auch vorne liegt, so etwas sagt, dann ist eine solche Aussage viel gefährlicher als bei den üblichen AfD-Verdächtigen.“

politikorange: Warum solidarisieren sich Parteien des rechten Spektrums eher mit Israel? Ist die rechte
etwa judenfreundlich geworden?
Dr. Carsten Koschmieder, Politikwissenschaftler an der FU Berlin. Foto: Dr. Carsten Koschmieder

Koschmieder: Die Rechte ist keinesfalls judenfreundlich. Es ist essenzieller Bestandteil ihrer Ideologie, antisemitisch zu sein. Wir haben also Antisemitismus und gleichzeitig Solidarität mit Israel. Warum? Erstens, es kostet nicht viel. Die AfD muss dafür nichts Konkretes tun, es reicht, Solidarität mit Israel zu verkünden. Solidarität mit jüdischen Menschen im eigenen Land würde die AfD schon deutlich mehr kosten. Zwar versucht sie das teilweise, gleichzeitig spricht sich die AfD aber auch gegen Holocaustgedenkstätten und -denkmäler aus. Im eigenen Land ist es komplizierter, aber die Unterstützung von Israel ist sozusagen kostenlos. Warum ist das nun wichtig? Zum einen vertritt die AfD das Mantra, Israel sei Teil des Westens im Kampf gegen die Muslime. Wir haben hier ein Beispiel für antimuslimischen Rassismus, den man hiermit gut artikulieren und symbolisieren kann. Zudem steckt Profilierung dahinter: „Wir sind ja gar keine Antisemiten, wir sind die, die Israel unterstützen.“ Es ist ein Versuch, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken, und den eigenen Antisemitismus und Rassismus zu kaschieren, indem gesagt wird, wir sind doch diejenigen, die für Israel sind.“

Hinter der Freundlichkeit gegenüber Israel steckt noch mehr als reine Solidarität, nämlich Kalkül. Ein Kalkül, das viele Muslime und Muslimas hierzulande spüren, denn Rechtspopulisten betreiben ihre vorgetäuschte Solidarität auf dem Rücken der muslimischen Community. Zum einen erschaffen sie durch Othering ein Zerrbild, welches zwischen „Uns“ und „Denen“ unterscheidet. Diese Rhetorik ist unter Rechtspopulisten beliebt, um sich ethnokulturell von „den Anderen“ abzugrenzen und sich selbst als überlegen zu konzipieren. Zum anderen grenzen sie sich augenscheinlich vom Antisemitismus ab, beflügeln den Begriff “importierter Antisemitismus”, der von außen, also von “denen” kommt. Sie benutzen den Begriff legitimierend für den eigenen Fremdenhass – und dafür, dass Deutschland keine Geflüchteten aufnehmen sollte.

Koschmieder: „Im gleichen Zusammenhang sehen wir antimuslimischen Rassismus, und Homophobie. Sie [die Rechtsradikalen] tun so, als würden sie sich für Homosexuelle einsetzen, dabei würden sie diese am liebsten ins Gefängnis sperren. Hierzu gibt es öffentliche Aussagen einiger deutscher AfD-Politiker. Antimuslimischer Rassismus im rechten Spektrum wird so geframed, dass man sich für die Rechte deutscher Homosexuellen einsetzt – und gegen muslimische Einwanderer verteidigt. Dieses Phänomen sehen wir auch bei Israel.“

Es ist fast wie eine Bilderbuchdefinition für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Die deutsche Rechte rechtfertigt ihren antimuslimischen Rassismus mit dem vermeintlich allen Muslim*innen inhärenten Judenhass. Antimuslimischer Rassismus, das heißt, die Pauschalisierung des Islams oder die Reduzierung muslimischer Menschen auf eine einheitliche Gruppe, scheint im rechten Spektrum salonfähig geworden zu sein. Muslim*innen werden so als „fremd“ und „gefährlich“ dargestellt.

politikorange: Gibt es gesellschaftliche Gruppen, bei denen Antisemitismus besonders stark ausgeprägt ist?

Koschmieder: „Vielleicht ist die wichtigste Erkenntnis, dass Antisemitismus in allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten verbreitet ist. Wir haben auch das Phänomen des linken Antisemitismus, welcher empirisch messbar und in der Debatte sehr präsent ist. Manchmal wird vergessen, dass der rechtsextreme Antisemitismus der schlimmere ist, und dass antisemitische Straftaten von Rechtsextremen begangen werden. Punkt. Linke schänden keine jüdischen Friedhöfe. Soweit wir wissen, sind es Rechtsextreme, welche diese Straftaten ausüben. Somit bleibt der Antisemitismus aus dem rechtsextremen Lager das größte Problem für die Sicherheit.“

Ein Blick in die Statistik zeigt, dass 84% antisemitischer Straftaten im Jahr 2022 politisch rechts motiviert gewesen waren, lediglich 4% der antisemitischen Straftaten waren durch ausländische und religiöse Ideologie motiviert (Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022, Tabelle 13, Seite 11, Anm. d. Red.). Das Bild, das Merz in den sozialen Medien entstehen lässt, hat also kaum etwas mit der Realität zu tun. Beunruhigend ist viel mehr, dass die Anzahl antisemitischer Gewalttaten kontinuierlich hoch ist.

Das Bundesministerium für Inneres warnt trotz geringfügig gesunkenen Zahlen vor übereilten Trugschlüssen. Antisemitismus bürge weiterhin ein großes Risikopotenzial für jüdische Menschen in Deutschland.

politikorange: Zu guter Letzt: Ist Antisemitismus nun importiert oder ist das ein Slogan der Rechten?

Koschmieder: „Mein Hauptproblem mit dieser Formulierung ist folgendes: Es erweckt den Eindruck, als hätten wir dieses Problem unter Deutschen nicht, obwohl nur wenige Wochen zuvor das Hauptthema im bayrischen Wahlkampf war, dass jemand mit üblem, antisemitischem Flugblatt weder zurücktritt noch sich entschuldigt, sondern die Medien einer gezielten Rufschädigungskampagne bezichtigt. Importierter Antisemitismus lässt verlauten, dass dies ein Problem von außen ist. Die Fremden, die zu uns kamen, haben den mitgebracht. Bei uns gab es dieses Problem vorher nicht. Das ist natürlich absurd, in dem Land, das die Shoah initiiert und ausgeführt hat.“

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Kanyinda Katako (he/him)
    14. Februar 2024 19:01

    Wirklich ein sehr toller Beitrag – es ist wirklich absurd, dass Merz so tut, als wäre Antisemitismus importiert. Das ist in Bezug auf den Holocaust und den europäischen Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts abartiger Geschichtsrevisionismus. Die Aussage wirkt noch einmal dreister, wenn man bedenkt, dass Merz vor einigen Jahren über seinen Großvater schwärmte, obwohl dieser Mitglied bei der NSDAP und Hitler-Fanboy war. Er benutzt Menschen jüdischen Glaubens, um seine rassistischen Motive zu verbreiten. Dass eine CDU mit einem solchen Vorsitzend derzeit bei knapp 30% der Stimmen liegt, zeigt viel über den Rassismus und Antisemitismus der deutschen, weißen Mehrheitsgesellschaft. Wäre die Menschen wirklich so tolerant und weltoffen, wie sie sich immer vormachen, wäre die CDU niemals so sehr im Aufwind. Wenn man es gut mit ihm meint, ist Merz ein Rechtspopulist, wenn nicht, ist er locker ein Rechtsaußen-Politiker, der regelmäßig Verschwörungstheorien verbreitet. Mich regt es auf, dass er im öffentlichen Diskurs so nicht benannt wird und man ihn als „politische Mitte veordnet“, obwohl diese schon alleine in Mythos ist. So entsteht der Eindruck, dass Positionen die eindeutig Rechts sind, in Wahrheit gemäßigt wären. Menschen dürfen keinen Freibrief für rechte Hetze bekommen, sondern müssen mit der Wirklichkeit ihrer Ansicht konfrontiert werden.

    Antworten
  • Jedes erwähnte Phänomen mag isoliert für sich stimmig sein, auch die Verknüpfungen sind nachweisbar, trotzdem ist das Bild unvollständig, weil es Juden bei uns, das Judentum im allgemeinen und deren Vertreter stets nur als Opfer von Angriffen, Verleumdungen und Vorurteilen sehen will. Wer sich die Mühe macht, über den deutschen Tellerrand zu blicken, wird bald begreifen, dass es einen weltweiten Kulturkampf des rechten, reaktionären, fremdenfeindlichen und natürlich islamophoben Lagers gibt, für den der Feind bei den „Woken“ und Linken zu finden sei. Dieses Milieu mit Antisemitismus oder Israelfeindschaft in einen Topf zu werfen ist absurd. Die auch in den oben angeführten Interviews zu findende Gleichsetzung von Antisemitismus mit Rechtsextremismus trifft nun einmal fast nur für den Diskurs in Deutschland zu. Die Frage, was man denn von rechten Juden halten soll, ist in Deutschland geradezu tabuisiert, so als ob es sie nicht geben könne. Es gibt sie aber, sie regieren Israel, die Vertreter des politischenen Liberalismus werden von ihnen weltweit verachtet und verhöhnt. Sie bekämpften Obama, sie stehen gegen Biden, sie setzen auf Trump, sie unterstützen Ungarns Orban. Sie rufen Juden bei uns dazu auf, jegliche Vorbehalte gegenüber der AfD aufzugeben. Ihre Vertreter in Deutschland weisen die Zuordnung von antisemitischer Gewalt zum Rechtsradikalismus als linke Lüge zurück und stellen sie als Taten linker Antisemiten dar.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.