Paranoide Reichsbürger*innen und ein Geiseldrama im Trash-TV: Dem Schriftsteller Jan Wehn gelingt in seinen Werken die Darstellung der Absurditäten der Neuen Rechten. Ein Text von Lukas Siebeneicker.
In Zeiten der Pandemie haben Verschwörungsmythen Hochkonjunktur. Auf Demonstrationen und in den Sozialen Medien behaupten selbsternannte „Querdenker*innen“ zum Beispiel, dass das Coronavirus von Bill Gates geplant wurde, um den Menschen Überwachungs-Chips einzupflanzen. Treffend beschrieb der Schriftsteller Jan Wehn in seiner Novelle „Morgellon“ schon vor vier Jahren den gefährlichen Einfluss von Verschwörungserzählungen. Dies könnte man als hellsichtige Prognose der heutigen Situation lesen. Schon damals war ihm klar, dass das Thema ernst ist. „Aber ich konnte bei vielen Menschen erkennen, dass sie das Problem zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz begriffen hatten. Als ab 2017 Verschwörungsmythen zunehmend populärer wurden, in den USA wie auch hier, hat sich das merklich verändert.“
Jetzt hat er einen Auszug aus seinem neuen Theaterstück „Reconquista Reality“ veröffentlicht, in dem sich ein Naziterrorist in eine Dating-Reality-Show einschleust, um den Startschuss einer rechten Revolte auszulösen. Eine zweite Prognose? Das noch unfertige Theaterstück, das als Auszug in der Januar-Ausgabe des Berliner Magazins „Das Wetter“ veröffentlicht wurde, setzt den Nazi-Adonis Julien ins Zentrum. Auf Geheiß seines Ziehvaters hat er sich einer Schönheitsoperation unterzogen und gibt sich jetzt als Maschinenbaustudent aus, der – wie es sich für einen aufstrebenden Influencer gehört – früher Surflehrer auf Bali war. Julien besteht die Background-Checks des alternativen Flirtshow-Formats und wird als Kandidat akzeptiert. Die anderen Figuren, die an reale Teilnehmer*innen der Dating-Serie „Love Island“ angelehnt sind, nehmen Julien begeistert auf („Oha, Maschiiine, Dicker!“). Doch während der Dreharbeiten verliebt sich Julien in eine Kandidatin und seine Revolte droht zu scheitern.
Auf den ersten Blick wirkt das Szenario völlig unwirklich. Warum sucht sich Julien ausgerechnet eine Fernsehserie für einen Anschlag aus? In der Postmoderne muss man die Gegenfrage stellen: Warum nicht? Schon längst kann man Livestreams sehen, in denen Menschen erschossen werden oder ihr alltägliches Aerobic-Programm durchziehen, während im Hintergrund das Militär putscht. Vielleicht ist alles nur eine Frage der Zeit. Wehns Idee wird auch durch das Wissen um die aktuellen Kontroversen über Nazis im Reality-TV glaubwürdig. So wurde zum Beispiel im letzten Jahr eine britische Holzfäller-Serie abgesetzt, weil die Producer erst hinterher merkten, dass einer der „Kerle“ ein Tattoo mit der Nazi-Code-Zahl 88 auf der Wange trug.
Jan Wehns Novelle „Morgellon“, die 2017 im Berliner Korbinian Verlag erschien, kann als Vorgeschichte zu „Reconquista Reality“ gedeutet werden. Eigentlich sollte „Morgellon“ keine Vorhersage, sondern ein Zeitporträt sein. Wir erinnern uns: Schockierte Qualitätsmedien sahen in Trumps Wahlsieg und dem Erstarken der Identitären Bewegung den Beginn eines postfaktischen Zeitalters. Dass drei Jahre später ein Mob aus Blumenkindern und Messerstecher-Faschos den „Sturm auf den Reichstag“ probte, ist mehr als nur fieser Zufall und zeigt neben dem Erstarken der Neuen Rechten das prophetische Potenzial dieser Novelle.
Worum es geht? Der Vollzeitstudent Noah ballert sich in seinen Semesterferien mit einem Amphetamin-Cocktail in einen wolkigen Dämmerzustand. Auf einmal wird er von dröhnenden Kopfschmerzen geplagt und bald kommt er dank eines besonders vertrauenswürdigen Internetforums auf deren naheliegende Ursache: Die Kondensstreifen am Himmel. Dann bilden sich auf Noahs Haut auch noch juckende Pusteln, die er ständig aufkratzt, weil er darin kleine Würmer vermutet. Seine esoterische Geliebte klassifiziert diese dann im Brustton der Pseudo-Wissenschaftlichkeit als „Morgellonen“, die man – na klar – nur mit Globuli therapieren könne. Spannende Geschichte – Noah ist überzeugt. Sie meint damit ein tatsächlich existierendes Krankheitsbild, bei dem Betroffene das wahnhafte Gefühl haben, dass seltsame Fasern aus ihrer Haut wachsen. Jan Wehn erzählte mir im Gespräch: „Jemand behauptet, da sei etwas in seinem Körper, das einen Juckreiz auslöst. Dieses Phänomen ist nicht wissenschaftlich anerkannt, aber man kann auch nicht wirklich von der Hand weisen, dass nicht doch etwas da ist. Das hat mich direkt fasziniert.“ Wehn zufolge könnte man die Morgellonen auch als Metapher für Verschwörungsmythen verstehen: „Je mehr man an diesen Dingern herumkratzt, desto schlimmer wird es. Das ist grundsätzlich eine Gefahr von Verschwörungstheorien: Man liest etwas, man wird neugierig und beginnt, sich immer intensiver damit zu beschäftigen und glaubt mehr und mehr daran.“
Außerdem ist nach Wehn die Verschwörungserzählung immer die bessere Story, auch in Zeiten von Corona. „Schließlich ist ein geheimes Labor, das einen Virus entwickelt, um die Welt aus den Angeln zu heben, interessanter, als die echte Entstehungsgeschichte. Das ist der Grund dafür, dass sich viele davon angezogen fühlen.“
Noah würde heute sicher bei „Querdenken“ mitlaufen. Doch diese Mythen haben bei Corona-Leugner*innen wie bei Noah darüber hinaus ein für die Gesellschaft gefährliches, z. B. antisemitisches Moment. Am Ende der Novelle trifft sich Noah mit anderen Reichsbürger*innen und tritt in ihren völkischen Geheimbund ein. Dessen Mitglieder überzeugen ihn von der Übermacht der „dreizehn dämonischen Blutlinien, die auf die Jesuiten zurückgehen“ und Noah verbarrikadiert sich mit der Schrotflinte im Anschlag in seinem Zimmer.
Längst gilt es als Binsenweisheit, dass das Bild des versoffenen, ungebildeten, glatzköpfigen Nazis ein veraltetes Klischee ist. Das wird in „Morgellon“, aber auch in „Reconquista Reality“, deutlich. Im Drama bezieht sich Jan Wehn mit der Figur des durchtrainierten und charmanten Julien auch auf den Teil der Neuen Rechten, der mit Charisma, Elaboriertheit und dem gekonnten Umgang mit Sozialen Medien so viele Menschen wie möglich zu beeinflussen versucht. Jan Wehn erzählt, dass zum Beispiel Milo Yiannopoulos – Ziehsohn des Trump-Beraters Steve Bannon und ehemals wichtiger Journalist des rechtsradikalen Breitbart-Blogs – ein Vorbild für die Figur des Julien war. Der Titel des Theaterstücks verweist gleichzeitig auf das deutsche, rechtsextreme Netzwerk „Reconquista Germanica“, das Online-Attacken auf politische Gegner*innen organisierte, und die mit ihm verbundene Identitäre Bewegung.
Wie geht es in unserer Gesellschaft weiter? Die Anzahl der rechtsextremen Straftaten ist nach Angaben der Bundesregierung im Corona-Jahr 2020 stark gestiegen und Neonazis wie Attila Hildmann können nach wie vor ihre Ideologien medienwirksam verbreiten. Wie es auch am Ende einer jeden Folge des ZEIT-Feuilleton-Podcasts „Die sogenannte Gegenwart“ Usus ist, habe ich Jan Wehn um eine Prognose gebeten: Wird ein Attentäter, ganz wie in „Reconquista Reality“, in den nächsten fünf Jahren in irgendeiner Fernsehshow dieser Welt ein Geiseldrama veranstalten? Seine Antwort: „Ja“.