Kemal will lernen. Wie jedes Kind. Doch er hat denkbar schlechte Voraussetzungen. Dominik Glandorf porträtiert den Worst Case.
Kemal ist zehn Jahre alt. Er kam vor drei Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. Sie können nur wenige Bruchstücke Deutsch. Deshalb können sie ihm auch nicht bei den Hausaufgaben helfen. Auch sie hatten früher Probleme in der Schule und haben keinen Schulabschluss. Von dem wenigen Sozialgeld, das die Familie erhält, bleibt nichts für Nachhilfeunterricht übrig. Kemal hält das aber auch nicht für notwendig, seine Freunde haben schließlich auch keinen. Dass die beiden Mädchen am Nebentisch bessere Noten schreiben als er und sein bester Freund, wundert die beiden – ein erfolgreicher Menschen ist in ihren Köpfen schließlich männlich. Dass die beiden nach der Schule Bücher lesen, weiß er nicht. Bei ihm stehen nicht mal Bücher im Regal. Da steht nur die Spielekonsole. Lesen ist für Kemal sowieso kein Vergnügen.
Bald kommt Kemal in die fünfte Klasse. Für das Gymnasium hat es nicht gereicht. Das haben die Lehrkräfte seinen Eltern von Anfang an gesagt. Sein Notenschnitt ist zu schlecht. Auch seine Deutschkenntnisse sollten schon besser sein. Kemal hat gehört, dass man auf das Gymnasium wechseln kann, wenn man gute Noten schreibt. Dass Kemal in seiner Heimat in der ersten Klasse von seinen Lehrern und Lehrerinnen gelobt wurde, weiß hier niemand. Auch seine Eltern haben es inzwischen vergessen und hoffen, dass ihr Sohn überhaupt einen Abschluss macht.
Der klassische Verlierer
Kemal gibt es nicht. Gäbe es Kemal wirklich, wäre er der klassische Verlierer unseres Bildungssystems. Der fiktive Charakter vereint viele Eigenschaften, die jungen Menschen in Deutschland ihre Chancen auf höhere Bildungsabschlüsse verringern. Alle Menschen haben ein Recht auf Bildung. Das haben die Vereinten Nationen 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten. Auf dem 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag beschäftigen sich viele Experten und Expertinnen mit der Verbesserung der Situation. Und so darf Kemal davon träumen, dass seine Kinder unabhängig von sozialem Stand und anderen Faktoren die gleichen Bildungschancen wie alle haben.
Stück für Stück entsteht Kemal
Im Arbeitspapier „Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung“ der Hans-Böckler-Stiftung von den Sozialforscherinnen Heike Solga und Rosine Dombrowski geben die Autorinnen den Stand der Forschung zum Thema Bildungsungleichheit wieder. Kemals Lebensgeschichte setzt sich aus den Forschungsergebnissen des Papiers zusammen:
- Schichtzugehörigkeit: Die soziale Schichtzugehörigkeit, der Bildungsabschluss der Eltern und die Anzahl der im Haushalt verfügbaren Bücher haben unter anderem einen Einfluss auf die Lesekompetenzen. Ein geringer sozioökonomischer Hintergrund verringert die Chancen, dass Schüler und Schülerinnen auf ein Gymnasium gehen. Eltern aus höheren Schichten investieren zum Beispiel mehr Geld in den Nachhilfeunterricht. Bildungsarmut setzt sich über Generationen fort. „Über die Hälfte aller Jugendlichen erreicht keinen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern“, heißt es in der Broschüre zum 15. Deutschen Kinder- und Jugendbericht. Zudem sorgt die Aufteilung der Kinder in differenzierte Schulformen für unterschiedlich ausgeprägte Motivation und Erwartungen.
- Migrationshintergrund: Im deutschen Bildungssystem wird laut Papier „der Migrationshintergrund im Bildungsprozess relevant.“ 31,8% der 15-Jährigen mit Migrationshintergrund besuchen die Hauptschule, während es nur 16,6% der 15-Jährigen ohne Migrationshintergrund sind. Zu einem Teil kann dies darauf zurück geführt werden, dass Familien mit Migrationshintergrund häufiger zu niedrigeren sozialen Schichten gehören und die Eltern seltener höhere Bildungsabschlüsse vorweisen. Dies variiert jedoch stark je nach Herkunftsland. Aber auch die Beherrschung der deutschen Sprache ist ein Faktor. Deren Auswirkung ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern besonders groß.
- Geschlecht: Über 60% der Schulabgänger und -abgängerinnen ohne Hauptschulabschluss sind Jungen. Es gibt nur vage Theorien über die Ursachen. Dazu gehört die Dominanz weiblicher Lehrkräfte im Schulsystem, langsamere Entwicklungsgeschwindigkeiten von Jungen und geschlechtsspezifische Sozialisation. Mädchen lesen allgemein mehr und spielen häufiger ein Instrument als Jungen. Diese spielen mehr Computerspiele und schauen mehr Filme.
- Bildungsmobilität: Die Entscheidung für den Schultyp der weiterführenden Schule kann zwar korrigiert werden, aber in den meisten Fällen findet eine Korrektur in eine niedrigere Schulform statt. Das Bildungssystem weist eine geringe Durchlässigkeit auf.
Die Ausnahme bestätigt die Regel
Die dargestellten Aspekte sind nicht alle Faktoren, die zu Benachteiligung im deutschen Bildungssystem führen. Zum Beispiel wirken sich auch körperliche und geistige Beeinträchtigungen und der Wohnort auf die Chancen aus. Dennoch gilt: Es gibt viele Menschen, die denkbar schlechte Voraussetzungen mitbringen und trotzdem hervorragende Bildung erfahren. Ebenso sind die besten Voraussetzungen keine Garantie für einen Erfolg.
Es gibt bereits viele Hilfsangebote, viele Lehrende regen aus persönlicher Motivation individuelle Förderungen an und weltweit engagieren sich Menschen für gleiche Chancen in der Bildung. Und so werden Leser und Leserinnen dieses Artikels hoffentlich schon in naher Zukunft das Gefühl haben, dass Kemal aus einer anderen Zeit stammen muss.