21,3 Millionen Menschen haben den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2021 benutzt. Die 38 Thesen für den Parteienvergleich sind im Homeoffice entstanden. Christine Laqua schaut hinter die Kulissen.
Klappernde Tastaturen, Straßenlärm im Hintergrund. Lea Schrenk, Martin Hetterich und Pamela Brandt sitzen mit Kaffeetassen vor ihren aufgeklappten Laptops. Es ist zehn Uhr, eine Telefonkonferenz steht an. Die drei Projektleiter*innen sitzen zwischen ihren Zimmerpflanzen auf dem Sofa oder am Küchentisch und besprechen letzte organisatorische Details für die kommende Woche. So oder so ähnlich mag der Alltag im Entstehungsprozess des Wahl-O-Mat ausgesehen haben, denn 2021 ist das Tool im Homeoffice entstanden. Der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) zur Bundestagswahl 2021 entsteht am Puls des politischen Geschehens zwischen Berlin und Bonn. Bis zum 27. September 2021, dem Montag nach der Wahl, haben rund 21,3 Millionen Menschen auf den Button „zu Ihrem Ergebnis“ geklickt, um sich über ihre Parteipräferenzen zur Bundestagswahl zu informieren. Ein sichtlicher Erfolg, 2017 waren es nur 15,8 Millionen. Aber wie entsteht Deutschlands meistgenutzte Wahlentscheidungshilfe?
Durch die Corona-Pandemie findet alles virtuell statt
Los geht es ein halbes Jahr vor der Wahl. Die Projektleiter*innen beauftragen Dienstleister*innen, kontaktieren die Parteien für erste Informationen und schreiben die Redaktion für den Wahl-O-Mat aus. Diese wird dieses Jahr durch die Kombination aus Jungwähler*innen und Expert*innen eine bunte Mischung aus Leuten unterschiedlichen Alters und Hintergründen sein. „Wir haben Schüler*innen und Studierende dabei, aber auch Auszubildene und Berufstätige. Die älteste Person in der Redaktion ist 60 Jahre alt“, erzählt Lea Schrenk, die zusammen mit Martin Hetterich und Pamela Brandt in diesem Jahr die Verantwortung für das Projekt trägt. Dieses Jahr werden sich alle durch die Corona-Pandemie nur online treffen.
Nächstes Jahr feiert der Wahl-O-Mat seinen 20. Geburtstag. Bis dahin wird er über 85 Millionen Mal die Frage beantwortet haben, welche Parteien am meisten mit der Beantwortung der 38 Thesen der Nutzer*innen übereinstimmen. Ins Leben gerufen wurde er 2002, um die Wahlbeteiligung der jungen Wähler*innen zu erhöhen. Deshalb erarbeiten bis heute 20 bis 25 junge Menschen zusammen mit Expert*innen aus Politik, Bildung und Forschung die Inhalte des Wahl-O-Mat. Auf einen Platz in der Redaktion als Jungwähler*innen können sich alle Wahlberechtigten bis 26 Jahre bewerben.
Bei der Entscheidung wird es emotional
Im ersten von zwei Workshops drei Monate vor der Wahl nimmt die Redaktion die Wahlprogramme der Parteien auseinander. Zum Schluss entstehen 80 Thesen, die das gesamte Themenspektrum der Wahlprogramme abbilden sollen. „Bei der Schlussentscheidung kann es dann auch mal emotional werden“, so Schrenk. Es wird lange diskutiert, welche Themen aus den Wahlprogrammen die Bandbreite der gesellschaftlichen Angelegenheiten am besten beschreiben. Welches Thema kommt besonders häufig vor? Wie wird die These für alle verständlich formuliert?
Wenn die finale Entscheidung getroffen wurde, werden alle 80 Thesen an die einzelnen Parteien geschickt. Diese müssen die Thesen in zwei bis drei Wochen mit „stimme zu“, „neutral“ oder „stimme nicht zu“ beantworten und jeweils in einer kurzen Antwort Stellung nehmen. Die drei Projektleiter*innen übernehmen dabei die Kommunikation. Zur Bundestagswahl haben sie über hundert Mails mit den 40 zur Wahl zugelassenen Parteien hin und her geschickt. Der Austausch mit den Parteien funktioniere dabei sehr gut, berichtet Schrenk. Sie seien sehr offen und sie und ihre Kolleg*innen gelten als die, „die das Tool kennen.“ Den Parteien ist nicht nur angesichts der hohen Nutzer*innenzahl wohl bewusst, wie wichtig ihre passgenaue Antwort der Thesen ist. Manch eine erhofft sich möglicherweise eine Auswirkung auf die Wahlentscheidung durch den Wahl-O-Mat – aber inwiefern ist das überhaupt möglich?
Ein Beitrag zur politischen Bildung
Eine Studie der Data Science Lab der Hertie School hat herausgefunden, dass die Auswirkungen des Wahl-O-Mat auf die Wahlergebnisse sowie die Wahlbeteiligung gering seien. Allerdings erhöhe sich durch die Nutzung der Wahlentscheidungshilfe das Wissen der Teilnehmenden über die Positionen der Parteien zu den Thesen. Nach der Studie leistet der Wahl-O-Mat also in erster Linie einen Beitrag zur politischen Bildung – ganz im Sinne der Projektleiter*innen des Tools. „Die User*innen sollen ihre Entscheidung selbst treffen und eher angeregt werden, sich weiter über Politik zu informieren“, erklärt Schrenk. Am Wahl-O-Mat selbst solle man nicht festmachen, wen man letztendlich wählt.
Eine Woche vor Launch des Wahl-O-Mat wird es dann noch einmal laut vor den Bildschirmen der Redaktion. „Nachdem alle Parteien geantwortet haben und ihre Antworten auf Stimmigkeit mit ihren Statements kontrolliert wurden, kommen wir wieder zusammen und beratschlagen, welche 38 Thesen den Nutzer*innen letztendlich zur Auswahl stehen“, berichtet Schrenk. Wie stehen die Deutschen zum Tempolimit auf der Autobahn oder zum Wahlalter ab 16 Jahren? Dabei geht es vor allem um die Kontroverse. Thesen, bei denen die Parteien sich grundsätzlich einig sind, fliegen raus. In die finale Auswahl schaffen es die Thesen, bei denen die Parteien sich trennscharf uneinig sind. Das führt regelmäßig zu Kritik. Im Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl findet sich zum Beispiel keine These zum Themenfeld „Kultur“ bemängelt der Deutsche Kulturrat. Er wirft dem Wahl-O-Mat deshalb Kulturlosigkeit vor, er ignoriere die Bedeutung der Kulturpolitik bei der Bundestagswahl.
Der Launch wird am Telefon gefeiert
Obwohl der Wahl-O-Mat zur Wahlmotivation junger Menschen ins Leben gerufen wurde, nutzen auch ältere Personen das Tool für ihre Wahlentscheidung. Zwei Drittel der Wahl-O-Mat-Nutzer*innen sind über 30 Jahre, ein Viertel sogar über 50. Etwa die Hälfte nutzt ihn, um den eigenen Standpunkt zu überprüfen. Bei etwa 90 Prozent der Nutzer*innen stimmt das Ergebnis mit ihrer politischen Position genau oder ungefähr überein.
Wie der Wahl-O-Mat bei den Nutzer*innen ankomme, sei jedes Jahr aufs Neue spannend, sagt Lea Schrenk. Schließlich haben sie monatelang daraufhin gearbeitet. Den Launch des Wahl-O-Mat dreieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl hätten sie am Telefon gefeiert. „Ich hoffe sehr, dass wir das noch persönlich nachholen können“, wünscht sie sich.
Und was passiert nach der Wahl? Schrenk und ihre Kolleg*innen sitzen dann hoffentlich nicht mehr zwischen Zimmerpflanzen und am Küchentisch, sondern wieder zu dritt im Büro in der Friedrichstraße in Berlin. Denn der nächste Wahl-O-Mat steht an: In genau sechs Monaten ist Landtagswahl im Saarland.