Augen zu und willkommen in deiner eigenen perfekten Welt – die Meisten nennen das Schlafengehen oder Tagträumen. Dass Träumen aber auch mehr kann, beschreibt das Wort „Utopie“ sehr gut: Ein Zustand, der noch nicht seinen Ort gefunden hat, ein Nicht-Ort. Bis es diesen Ort wirklich gibt, gelangt man dorthin nur über die Brücke der Träume.
Politisches Träumen war mit der Traumreise von Open Globe Netzwerk NRW möglich. Vierzehn Teilnehmende und sieben Veranstaltende haben sich an einem Montagabend virtuell bei Zoom zum gemeinsamen Träumen getroffen. Mit beruhigender Hintergrundmusik, bereitgestellt per Youtube-Link, träumten sich alle in ihr perfektes Zuhause, von dem aus die Reise beginnen sollte.
„Wie sieht es zuhause aus und mit wem wohnst du zusammen?“ war die erste Frage, die die Träumenden auf den Weg zu ihrer Utopie lenkte. Mit weiteren Fragen wurden die Teilnehmenden zum Nachdenken über das Leben von jungen und alten Menschen und über ihre Fortbewegungsmöglichkeiten angeregt. Aber auch zu der Art und Weise, wie Waren getauscht werden und woher diese eigentlich kommen. Als wir an einem Kiosk stehen, fällt unser Blick auf eine Zeitung: „Welche Schlagzeilen gibt es? Wie wird über andere Länder berichtet?“. Auf der Zeitung abgebildet sind auch Lokalpolitiker*innen. Die Träumenden sollten sich ihre optimale kollektive Entscheidungsfindung vorstellen und wie sie selbst daran teilhaben.
Auch die Natur kam nicht zu kurz – die Traumreise ging von der Stadt raus aufs Land. Wie unterscheiden sich diese Orte und wie gewinnen wir unsere Energie? Nachdem wir uns auf einem schönen Fleckchen Erde niedergelassen haben, beobachteten wir die Tiere, die Menschen und wie diese miteinander umgehen. Inspiriert und gewärmt von der imaginierten Sonne wachten die Teilnehmenden nach knapp 30 Minuten aus ihrem politischen Schlummern wieder auf und schalteten die Kameras wieder ein.
„Spüre noch einmal, was es für dich heißt, ein gutes Leben zu führen“
Nach einer kurzen Session in Kleingruppen, in der ein Austausch über die eigene Traumwelt möglich war, trafen wir uns alle wieder im virtuellen Plenum. Die große Frage stand im Raum: Wie wird aus meiner Traumwelt unsere Traumwelt? Dazu hatte Open-Globe ein Online-Tool vorbereitet, ein sogenanntes Mentimeter. Alle Teilnehmenden konnten bis zu zwölf Begriffe aufschreiben, die gesammelt wurden und eine Wörter-Wolke ergaben. Doppelt genannte Begriffe standen in der Mitte. Zentral stachen die Wörter „Gemeinschaft“ und „Solidarität“ heraus, aber auch „Vielfalt“ und „Achtsamkeit“ waren oft vertreten.
Die anschließende Diskussion spiegelte die Wörter-Wolke wider. Viele Teilnehmende erlebten in ihrer Traumwelt ihren ganz normalen Alltag, mit spielenden Kindern und Spaziergängen durch die Stadt – nur eben ein bisschen anders, mit mehr Kontakt zum Umfeld und zur Gemeinschaft generell. So schilderte eine Teilnehmerin, dass sie in ihrer Welt mehr gelächelt hat. Dass sie auf dem Weg durch die Stadt offener für die Eindrücke war, die sie umgaben. Dass sie die Produkte, die sie gekauft hat, mehr wertschätzen konnte, auch mit einem Bewusstsein für die langen Produktionsketten, die dahinter stehen. Für andere Teilnehmende stand die Ruhe und Geborgenheit im Vordergrund, um die Zeit zu haben, nicht ständig neue Problemlösungen finden zu müssen.
Konkrete und subversive Änderungen kamen in den meisten Traumwelten nicht vor. Vielmehr ging es darum, den Alltag lebenswerter und weniger anonym zu gestalten. Und vor allem Platz für Austausch zu schaffen. Für eine Teilnehmende war die Traumreise selbst schon Teil dieser Utopie. Denn hier versammeln sich Menschen, die neu denken wollen und damit die Möglichkeit von neuen Perspektiven bieten. Nickend stimmte ihr eine andere Teilnehmerin zu: „Die Traumreise bietet ein Gegenbild zu meiner Enttäuschung, dass sich eh nichts ändert. Das macht Mut“.
Die Diskussion kam ins Rollen, nachdem Kritik am Wohlfühl-Faktor dieser eher homogenen Gruppe laut wurde: „Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinsamkeit. Das ist zu bequem und die Heterogenität der Realität wird dann zu unbequem“. Zustimmend wurde die Kritik aufgenommen und sich darauf geeinigt, dass Differenzen ja gerade die gewünschte Vielfalt erhalten, die Art und Weise der Konfliktaustragung aber geändert werden müsse – weniger Gegeneinander, mehr Dialog in geschützten Räumen. Nach circa anderthalb Stunden verabschiedeten sich alle – und meine Internetverbindung leider auch.
Is another world (really) possible?
Die Traumreise von Open-Globe hat die Möglichkeit eröffnet, gemeinsam auf eine kreative Weise politisch zu werden und Alternativen zu erträumen. Das liegt derzeit im Trend: Positive Utopien werden oft eingefordert in einer Zeit, die sehr ungewiss und von Krisen geschüttelt erscheint – von Kritiker*innen wie auch von reaktionärer Seite. „Wie würdest du es denn besser machen?“ ist eine häufige Frage, die sich nicht nur Vertreter*innen von Fridays for Future anhören müssen, sondern alle Menschen, die überkommene Wertesysteme kritisieren. Sei es auch nur am Frühstückstisch, der Ruf nach Alternativen kommt oft von Menschen, die sich Kritik nicht anhören wollen und die keinen Selbstreflexionsprozess beginnen wollen. Er wird benutzt, um Kritik zu übertönen oder unglaubwürdig zu machen – mit Erfolg. Die Mehrheitsgesellschaft findet Kritik erst akzeptabel, wenn sie konstruktiv ist. Und viele progressive Gruppierungen, die für eine bessere Welt einstehen, übernehmen diese Denkweise. Leider zu ihrem eigenen Schaden.
Daher bekommt die Traumreise eine leichte Schlagseite: Das Verlangen der Teilnehmenden nach positiven Ideen mischt sich mit ihren wenig utopischen Äußerungen – ein gleichbleibender bürgerlicher Alltag mit ein bisschen mehr Gemeinschaft. Subversive Kritik am systemischen Kapitalismus, an neokolonialen Produktionsketten, die sich auch nicht ändern, nur weil man darüber Bescheid weiß und an der weißen gewaltvollen Mehrheitsgesellschaft wurden nicht geäußert. Kleine kosmetische Änderungen bedeuten meist, dass der Rest eigentlich gar nicht so falsch ist. Bedeuten meist, dass es den kritisierenden Personen eigentlich ganz gut geht. Das Ergebnis dieser Traumreise ist so betrachtet das weitere Produkt eines Kapitalismus mit grünem Anstrich.
Wer jetzt fragt, wie ich es besser machen würde, versucht wieder, sich der genannten Kritik zu entziehen. Und ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung wie ich es machen würde. Deshalb bin ich froh, dass es Organisationen wie „Open Globe“ oder „Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“ – von denen die Traumreise inspiriert ist – gibt, die sich kreative Annäherungen an Visionen ausdenken, wie zum Beispiel diese Traumreise. Und ich bin froh, dass es die Möglichkeit gibt, diese Annäherungen zu kritisieren. Vielleicht ist ja schon dieser Prozess selbst unsere gemeinsame Utopie?