Aktivismus und Journalismus: klingt nach zwei Paar Schuhen. Auf den zweiten Blick sind die Techniken, Ansprüche und Ziele aber oft die selben. Carlos Hanke Barajas hat sich auf den Jugendmedientagen 2019 mit Journalistinnen und Journalisten ausgetauscht, die sich in der Schnittmenge der beiden Felder bewegen und hat dabei unterschiedliche Perspektiven zum Widerspruch zwischen Objektivität und Haltung gesammelt.
Lou Zucker kommt ins Grübeln. Sie erzählt nach ihrem Workshop bei den Jugendmedientagen von einem Auswahlgespräch an einer der renommiertesten Journalistenschulen Deutschlands. Später sagt sie, hätte sie danach ein wenig Angst gehabt. “Ein Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.“ Mit diesem Zitat von Hans Joachim Friedrichs wurde sie damals konfrontiert. Sie versteht und verstand sich damals wie heute klar als Aktivistin. In ihrer Twitter-Bio steht gleich nach Redakteurin “Queerfeminusmus, Machtverhältnisse, Liebe und Sex”. Sie sagt, dass sie womöglich nicht an dieser Schule genommen wurde, weil sie sich klar aktivistisch positioniert. “Ich hab gemerkt, was für eine Tragweite das für meine Karriere haben kann, wenn ich mich nicht mit dem Widerspruch zwischen Aktivismus und Journalismus beschäftige und dazu eine klare Haltung habe.” Dieses Jahr hat sie einen Frauenstreik bei ihrem Arbeitgeber Neues Deutschland organisiert. Sie brachte alle Autorinnen dazu, beim Weltfrauentag ihre Arbeit niederzulegen.
Was darf Journalismus?
So wie Lou geht es immer mehr Medienmacherinnen und Medienmachern in Deutschland. 2018 löste Martin Machowecz eine Diskussion aus, ob und wie Journalistinnen und Journalisten an Demos gegen Rechts teilnehmen dürften. Er findet es „unjournalistisch“, zumindest das „Rufe-Mitrufen“ und „Plakate-Hochhalten“. Darf man als Journalist oder Journalistin über diese Demonstrationen berichten, wenn man sie privat auch besuchen würde? Muss man als Berichterstatter oder Berichterstatterin durchgehend still beobachtend durch das Zeitgeschehen wandeln? Für Linus Giese kommt das nicht in Frage. Er ist Transmann, Germanist, Buchhändler und Aktivist. Und er nutzt Journalismus als Werkzeug, um sich Gehör zu verschaffen. „Für mich geht Journalismus nicht ohne Aktivismus.” Als Transperson ist er direkt von der Berichterstattung über Geschlechter betroffen. Letztes Jahr veröffentlichte er seine Geschichte im Tagesspiegel, der größten Berliner Tageszeitung. “Wenn ich über meine Themen schreibe, möchte ich als Aktivist schreiben, weil mein Anliegen ja Aufklärung ist.”
In dem von Lou Zucker und Leonie Sontheimer geleiteten Workshop bei den Jugendmedientagen 2019 kommt die Gruppe zu ähnlichen Erkenntnissen: Aktivismus und Journalismus verfolgen im Grunde recht ähnliche Ziele: Sie setzen Themen, schaffen Aufmerksamkeit, weisen auf Missstände hin. Sie leisten Bildungsarbeit und versuchen emotionale Bezüge zu Geschichten herzustellen. Was die beiden voneinander unterscheidet, ist das Aufrufen zum Handeln. Vielleicht gab es auch deswegen ein großes Medienecho als Anja Reschke 2015 zum “Haltung zeigen” und “Mund aufmachen” aufrief. Im Zuge der so genannten “Flüchtlingskrise” traf ihr Kommentar in der Tagesschau einen Nerv. Das darauf folgende Echo kam nicht nur wegen der Aussage, sondern wegen der Tatsache, dass Journalismus Haltung bezog, klare Positionen vertrat und den Menschen sagte, was zu tun war.
Objektivität ist aus der Zeit gefallen
Angesichts eines Anspruchs auf Objektivität nach Hajo Friedrichs ist es verständlich, dass viele Menschen, klare Positionierungen wie die von Reschke für eine Grenzüberschreitung halten: Von einer Politikerin sind solche Aussagen zu erwarten, von einer Aktivistin sowieso. Aber von einer Journalistin würde man sich doch nicht sagen lassen, was zu tun ist! Doch nicht nur in Deutschland regt sich diesbezüglich eine Diskussion: “Journalismus ist immer eine Art Aktivismus”, schreibt der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald in einem offenen Brief an die New York Times. Der Anspruch der Zeitung, objektiv und überparteilich zu berichten, scheint ihm aus der Zeit gefallen. Jeder Journalist treffe Entscheidungen, denen ausdrücklich subjektive Annahmen innewohnen. Wer über Kultur, Nationalstaaten, Geschlecht und Herkunft spricht, wird es also kaum vermeiden können, Worte zu verwenden, die ein bestimmtes Lager stärken. Selbst die konforme, mittige, bürgerliche Position, die sich an der Mehrheit der Bevölkerung orientiert, ist auch klar eine Position, die wertet. Die Teilnehmenden am Workshop haben das nach drei Stunden verinnerlicht.
Dass man auch Haltung zeigen kann, ohne sich als Aktivistin zu verstehen, zeigt Thembi Wolf, Redakteurin bei ze.tt. “Ich sehe mich gar nicht als Aktivistin. Ich finde auch Antirassismus ist kein Aktivismus, sondern hoffentlich selbstverständlich in unserer Gesellschaft.” Auf den JMT erzählte sie beim Journalismus Jam über einen Kommentar, in dem sie fordert, christliche Feiertage abzuschaffen. Auch wenn der Hass, der ihr danach entgegenschlug und die Meinungen, die sie vertritt, sich mit denen von Aktivistinnen und Aktivisten decken sollten, hält sie eine klare Distanz.“Aktivistinnen und Aktivisten denken manchmal sie und ich seien dasselbe. Aber ich trenne das. Sage ihnen klar, was ich nicht ok finde, frage nach Genauigkeit in den Forderungen und wie die praktische Umsetzung funktionieren soll.”
Schreiben im Kollektiv
Um die eigene Haltung und die persönlichen Hintergründe darzulegen, haben sich Thembi Wolf, Leonie Sontheimer, Lou Zucker und andere zum Kollektiv “collectext” zusammengeschlossen. Seien es ihre Sozialisation, ihr Aktivismus, von ihnen gegründete Kindergruppen oder handwerkliche Schnitzer aus der Vergangenheit: Auf ihrer Website ist bei jeder von ihnen transparent nachzulesen, wie sich die mehr oder weniger aktivistischen Journalistinnen in der Vergangenheit durch das Spannungsfeld bewegt haben. Für ihre journalistische Glaubwürdigkeit haben sie zusätzlich einen Leitfaden erarbeitet, der ihnen hilft, Grenzen zu setzen, wo sie nötig sind. Von Aktionen zu berichten an denen sie selbst beteiligt waren, ist für sie nicht in Ordnung.
Die Geschichte von Journalisten als unvoreingenommene, unbeschriebene Blätter wirkt nach den Gesprächen mit collectext utopisch. “Journalimsus geschieht nicht im luftleeren Raum”, steht auf ihrer Website. Um die Luft im Raum zu beschreiben, in dem Journalismus stattfindet, hat sich Lou Zucker Transparenz, Haltung und Diskurs verschrieben. Und dadurch ein Netzwerk gefunden, durch das sie sich sicher in einem schwierigen Spannungsfeld bewegt. Angst hat sie zumindest nicht mehr. Auch nicht vor dem nächsten Journalisten, der ihr das Hans Joachim Friedrichs-Zitat vor die Nase hält. Vielleicht ja schon beim nächsten Auswahlgespräch.
politikorange berichtet gemeinsam mit Spreewild, der Jugendredaktion der Berliner Zeitung, von den Jugendmedientagen 2019. Alle Artikel erscheinen in den kommenden Tagen hier und bei Spreewild.