Gleichzeitig mit der Anzahl der Infektionen steigt die Anzahl der Angriffe gegenüber Journalist*innen in mehreren Ländern. Unsere Reporterin Anna Abraham sprach unter anderem mit Sylvie Ahrens-Urbanek von Reporter ohne Grenzen, die erklärt, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Medienwelt hat.
Während des Interviews sitzt Sylvie Ahrens-Urbanek (Teamleiterin Kommunikation, bei Reporter ohne Grenzen) zu Hause. Wegen des Coronavirus arbeitet sie jetzt im Homeoffice. Für sie kein Grund, zu entspannen. Im Hintergrund hängt die Weltkarte der Pressefreiheit. Sie fällt auf vor der schlichten Wand, denn nur wenige Länder strahlen in der weißen Farbe, die für „guten Zustand“ steht. Stattdessen blickt man auf all die gelben, orangen, roten und schwarzen Abschnitte. Eine Momentaufnahme, aber die Zeichen, dass es 2020 besser wird, stehen nicht gut.
Ahrens-Urbanek berichtet, dass die Coronakrise vor allem wie ein Brennglas wirke. In Ländern, in denen die Pressefreiheit eh schon eingeschränkt war, verschlimmere sich die Situation noch. Auf der Webseite von Reporter ohne Grenzen fällt der Name Bangladesch. Erst vor kurzem wurde dort der Fernsehreporter Sajal Bhuiyan und sein Kollege Baten Biplob mit Stöcken geschlagen, nachdem sie über die Unterschlagung von Lebensmittelhilfen der Regierung recherchiert hatten. In dem Land steige die Gewalt gegenüber Journalist*innen, manche, die über die Krise berichten wollten, seien gar angeklagt. Der Vorwurf: Negative Propaganda. Ein besonderer Fokus bei der Weltkarte lag dieses Jahr auf China, Platz 177 von 180. In dem Land brach das Coronavirus Anfang des Jahres das erste Mal aus.
Sie erzählt von eingeschränkter Berichterstattung über die Fallzahlen, Bürgerjournalist*innen, die am Besuch von Krematorien gehindert wurden. Bekannt wurde der Fall von dem Arzt Li Wenliang, der schon früh vor einem neuen Erreger gewarnt und den die Regierung zum Schweigen gebracht hatte. Am Ende starb er selbst an der Krankheit. Gleichzeitig macht die Infektionsgefahr es fast unmöglich, sich vor Ort zu informieren. Viele Internetseiten wie Google oder Facebook sind in China nicht erreichbar, seit kurzem müssen auch wissenschaftliche Arbeiten vor der Veröffentlichung dem Staat vorgelegt werden. Anderswo, zum Beispiel in der Türkei, sitzen hunderte Journalist*innen im Gefängnis. Dort konfrontiert sie eine neue Gefahr. Zusammen mit den schwächenden Haftbedingungen seien sie im Fall einer Viruserkrankung besonders anfällig, zumal nicht in allen Anstalten auf Social Distancing geachtet werde, fürchtet Ahrens-Urbanek.
Schutz vor Viren oder Überwachung
Im Umgang mit Zoom ist sie noch etwas ungeübt, normalerweise verwendet sie Jitsi – „Aus Datenschutzgründen“. Als kritisch stuft die Mitarbeiterin der NGO innerhalb der Krise vor allem sogenannte Corona Apps ein. Auf der einen Seite sollen sie Menschen vor einer Ansteckung bewahren, auf der anderen Seite könnten tracking oder tracing apps anonyme Treffen mit Quellen erschweren. In Deutschland schlug Bundesminister Jens Spahn zunächst ein zentrales Konzep für eine solche App vor, nach starker Kritik und Sorgen um die Datensicherheit, soll die Anwendung jetzt dezentral erst in ein paar Wochen erscheinen. Auch netzpolitik.org-Aktivist und Chefredakteur Markus Beckedahl sorgt sich vor allem um den Schutz sogenannter Whistleblower, also anonymer Informant*innen. Es sei weitaus schwerer als in der analogen Welt, Überwachung im Internet zu bemerken oder zurückzuverfolgen.
Der freie Journalist Oskar Vitlif erklärt: „Wenn jemand mit einer Zeitung mit Löchern vor der Nase am Nachbartisch sitzt, erkennt man die Person leicht als Spion.“ Im Netz sehe das anders aus. Zum Thema Internetsicherheit bietet Reporter ohne Grenzen normalerweise mehrmonatige Ausbildungen für Journalist*innen aus aller Welt in Berlin an. „Leider wird der neue Jahrgang im Mai nicht wie gewohnt starten“, berichtet Ahrens-Urbanek aus dem Homeoffice.
Langfristig weniger Vielfalt
Eine weitere Folge ist vermutlich eher langfristig zu bemerken. „In den letzten Jahren registrieren wir in Deutschland eine starke Konzentrierung der Verlagshäuser. Das führt zu einer geringeren Medienvielfalt.“, erklärt Ahrens-Urbanek. Große Redaktionen würden etwa die „Mantelblätter“, also die überregionalen Seiten jeweils vieler Zeitungen produzieren. Dadurch legen wenige Menschen die Auswahl der Themen für eine große Leserschaft fest. Eine Befürchtung sei, dass durch eine Wirtschaftskrise im Zuge des Coronavirus sich dieser Prozess noch beschleunige. Neue Plattformen wie Social Media ermöglichen zwar einer großen Menge an Menschen, ihre Gedanken zu veröffentlichen. Das hätten jedoch schon die Regierungen vieler Länder bemerkt, in China etwa ist Facebook verboten.
Soweit ist es in Europa noch nicht, manche Staaten wie etwa Ungarn nutzen jedoch die Gelegenheit, restriktive Gesetze durchzusetzen. Ein von dem Ministerpräsidenten vorgebrachter Entwurf ermöglicht bis zu fünf Jahren Haft für „die Veröffentlichung falscher oder verzerrter Berichte“, schreibt Reporter ohne Grenzen. Auf der eigenen Seite ließ sich ROG-Chef Christian Mihr mit folgenden Worten zitieren: „Gerade in einer Krise wie der Corona-Pandemie ist Pressefreiheit unverzichtbar.“ Denn, wer nicht richtig informiert ist, schätze die Lage vielleicht nicht richtig ein und stecke sich leichter an.