Die Flüchtlingskrise ist europaweit eines der zentralen politischen Themen. Die EU entwirft mit ihrer derzeitigen Politik jedoch keine nachhaltigen Lösungsansätze, sondern gestaltet eine humanitäre und strukturelle Katastrophe im Mittelmeerraum.
09.08.2023 – 41 Personen ertrinken im Rahmen ihrer Mittelmeerüberquerung nach Europa. Es ist nicht die erste Hiobsbotschaft des Jahres, welche von tödlichen Übersiedlungsaktionen im Mittelmeerraum berichtet. Bereits im Februar und Juni verunglückten mehrere hundert Menschen auf einer der Migrationsrouten nach Europa tödlich. Ein Letalitätstrend, der durch die Vorjahreserfahrungen bestätigt wird. So verstarben im Jahr 2022 insgesamt 2.439 Flüchtlinge auf der erwähnten Mittelmeerroute.
Immerhin, faz, BR24 und ZEIT Online titeln. Doch Aufarbeitung oder gar Investigativ Recherche bezüglich ursächlicher Hintergründe erfolgen keine. In der Tagesschau, der reichweitenstärksten Nachrichtensendung Deutschlands, reicht das Ausmaß der Tragödie gerademal für eine Randnotiz – stattdessen erntet die EU ein Schulterklopfen für ihre gelungenen Gaseinsparmaßnahmen des vergangenen Jahres. Weniger glorreich zwar, doch ähnlich erfolgreich für die größte Friedensvereinigung ist die Bilanz in Bezug auf das Krisenmanagement im Rahmen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ – in puncto „Flüchtlingseinsparmaßnahmen“ verzeichnet die EU starke Quoten.
Statt nachhaltige Lösungsansätze zu entwerfen, gestaltet die EU eine humanitäre und strukturelle Katastrophe im Mittelmeerraum. Und die „Flüchtlingskrise“ verfügt über eine weit zurückreichende Chronik. Die Migrationsbewegung beschreibt in den vergangenen Jahren zunehmend einen aufwärtsstrebenden Trend. Händeringend sucht die EU noch immer nach Lösungen, während des Mantra der Alt-Kanzlerin Merkels im Vakuum zielorientierter Lösungsansätze verklingt. (Ein Echo ehemaliger Humanität?) „Wir schaffen das“, sagt Merkel 2015. Ihre vielfach zitierten Worte wurden zum Symbolbild für das Credo „Refugees Welcome“. Ein Gebot längst vergangener Stunde und bei Weitem nicht europäischer Konsens.
Der offizielle Rahmen: Konzepte, Verträge, Rechte
Frieden, Sicherheit, Menschenrechte. Das Wertekorsett der Europäischen Union gibt die Prinzipien und Leitlinien einer humanistisch orientierten Außenpolitik durch diesen Komplex zumindest in groben Umrissen vor. Doch die ethischen Maßstäbe, welche die Kernpfeiler internationaler Politik definieren, werden zunehmend aufgeweicht. An ihren Außengrenzen deligiert die Europäische Union diverse Kompetenzen an Drittländer und negiert somit ihre eigene Autorität. Der im Juli dieses Jahres unterzeichnete Vertrag mit Tunesien beschreibt eindrücklich diese Wirk- und Handelsmuster Europas.
Das Migrationsabkommen sichert Tunesien weitreichende Finanzierungshilfen als Vergütung für „Such- und Rettungsaktionen“ von Migranten. Als Ziel des Vertrags gilt die Verringerung des Migrantenzustroms über das Mittelmeer. Die vertragliche Delegation des Aufgabenkomplexes birgt jedoch viele Risiken. Durch das Entfallen europäischer Kontrollmöglichkeiten kann der humane Umgang mit Migranten nicht nachhaltig sichergestellt werden. Die Auslagerung der Konfliktsituation schafft zudem neue Probleme in Drittstaaten. Aufgrund des explosiven Klimas zwischen Einheimischen und Migranten ist die Beziehung entsprechend fragil, Eskalationen sind nicht ausgeschlossen.
Nach wie vor fehlen langfristige Lösungsansätze und angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage Tunesiens fällt es schwer, selbst eine Akutlösung für das Problem zu finden. Internationale Zusammenarbeit ist im Rahmen des längerfristigen Krisenmanagements essenziell. Der Vertrag stellt jedoch lediglich eine marginale Stellschraube in einem nachhaltigen Konzept zur Migrationsregulierung dar.
Die unterschwellige Agenda: problembehaftete EU-Politiken
Das europäische Asylgebot selbst bewegt zahlreiche Menschen zur Migration. In der Hoffnung auf ein potenziell besseres Leben in Europa wagen Menschen aus wirtschaftlich schwächeren Staaten die risikoreiche Übersiedlung – perspektivlos. Als sogenannte „Wirtschaftsmigranten“ verfügen sie nicht über das Recht auf Inanspruchnahme von politischem Asyl und werden konsequenterweise abgelehnt. In diesem Kontext muss zwischen sogenannten Wirtschaftsmigranten und Schutzbedürftigen unterschieden werden. Wobei letzteren als individuell oder kollektiv verfolgten Personen per Genfer Flüchtlingskonvention Asyl gewährt wird, gilt dies nicht für Migranten, die zwar aus strukturschwachen, aber nicht aus Verfolgerstaaten stammen.
Migration aus ökonomischen Gründen ist demnach ein perspektivloses Unterfangen. Trotzdem belegen Statistiken in den vergangenen Jahren einen mehrheitlich positiven Trend in Bezug auf die Zahl der Geflüchteten und Asylantragsteller in der EU. Aufgrund der Ermangelung sicherer Anreisewege, sind Flüchtende jedoch auf sogenannte Schleusernetzwerke angewiesen, welche die Risikofaktoren der Übersiedlung maßgeblich potenzieren. Zahlen von Todesopfern und Schiffbrüchigkeit betonen die Prekarität der Situation.
So verbüßen tausende Migranten den fehlenden Kurs der Europäischen Union mit dem Tod. Ob Strukturlosigkeit oder politisches Kalkül, diverse Instrumentarien behindern den Transit von Migranten über das Mittelmeer. Um nur ein Beispiele zu nennen: Es werden keine staatlichen Instanzen für die Seenotrettung installiert, die Bergung von Schiffbrüchigen obliegt ausschließlich zivilen Rettungsorganisationen. Die privaten Einsatzkräfte werden in ihrer Tätigkeit maßgeblich durch diverse bürokratische Hürden eingeschränkt. Die zivile Seenotrettung ist gezwungen, bestimmte, zumeist weit abgelegene Häfen anzusteuern, was ihre aktive Einsatzzeit aufgrund des langen Fahrtaufwandes erheblich reduziert.
Die Konsequenz von Rettungsvakuum und Kriminalisierung – das Mittelmeer verkommt zur Todeszone. Doch die Kriminalisierung von Migration stellt bereits in sich ein massives Problem dar. Die Nutzung „illegaler Fluchtrouten“ führt konsequenterweise zu einem Tatbestand auf europäischem Boden, sodass viele Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Europa in administrativer Inhaftierung festgehalten werden. Außerdem machen sich zivile Rettungskräfte der Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig, sodass gegen diverse Besatzungsmitglieder Strafprozesse eingeleitet werden.
Mission Migration: gescheitert
Durch die Instrumentalisierung jener bürokratischen Hemmnisse billigt die Europäische Union den Tod zahlreicher Migranten. Doch es bleibt nicht bei passiver Toleranz, auf diversen Ebenen wird sich aktiv gegen Migrationsströme engagiert. Exemplarisch steht die europäische Grenzschutzagentur „Frontex“, welche mit einem EU-Budget in Höhe von 544 Millionen Euro gespeist wird, in scharfer Kritik aufgrund der Durchführung von gewaltsamen Pushback-Maßnahmen, dem aktiven Zurückdrängen von Flüchtenden. Darüber hinaus erhärtet sich die Beweislage, welche ein ausbleibendes Rettungsengagement in Fällen von Seenot impliziert, wie beispielsweise im Zuge der Flüchtlingskatastrophe vom 14. Juni dieses Jahres. Die griechische Küstenwache verzögerte die Einleitung von ernsthaften Rettungsmaßnahmen trotz bestehender Informationslage über die Situation der Migranten. Ein bekanntes Handlungsschema; so wurde Griechenland bereits im Vorjahr aufgrund ihres brutalen Vorgehens gegen Flüchtlinge vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Die Menschenrechte sind das Kernstück des europäischen Rechtsverständnis. Jedem Menschen steht das Recht auf Unversehrtheit zu. Die Billigung vieler Hundert bis Tausend Todesfälle durch verzögerte bis ausbleibende Rettungsmaßnahmen ist ein Verbrechen, welches unter keinen Umständen geduldet werden darf. Unabhängig von der Frage, inwiefern Migration zukünftig gestaltet und gesteuert werden soll, muss initial die Unversehrtheit der Migranten gesichert werden. Längerfristig bedarf das Asylsystem der Europäischen Union einen grundlegenden Wechsel, welcher sowohl realpolitisch auf die gegebenen Umstände reagiert, als auch den europäischen Wertekomplex berücksichtigt. Andernfalls ist das moralische Fundament der EU, und damit sie selbst, eine Farce.
Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redaktion entstanden. Bei Fragen, Anregungen und Interesse könnt ihr uns gern eine Mail schreiben: redaktion@jugendpresse.de
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ein sehr großartiger Artikel, mit einem leider sehr tragischem Inhalt!
Ich bin freudig gespannt auf weitere Veröffentlichungen!!
Ein sprachlich und inhaltlich bemerkenswerter Text, der uns daran erinnert, dass es sich immer lohnt näher hinzuschauen und es vor allem unbedingt nötig ist.
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Sehr gute Recherche und Darstellung.