„Das ist eine reale Gefahr.“

Jens-Christian Wagner erscheint gut gelaunt zum verabredeten Video-Interview. Nicht selbstverständlich, denn er, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, blickt mit Sorge auf die Wahlergebnisse in Thüringen, nicht nur, weil ihn zuletzt Morddrohungen erreicht haben. Verwundert ist er nicht, Rechtsextreme hätten es in Thüringen schon immer leicht gehabt. Doch es gibt einen Unterschied mit Blick auf die Geschichte. 

Jens-Christian Wagner im Portrait.
Jens-Christian Wagner (58) ist Historiker mit Schwerpunkt zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit und der -Konzentrationslager sowie zur Erinnerungskultur nach 1945 und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Vor der selbsternannten Alternative für Deutschland (AfD) warnt er eindringlich. Foto: Jens Meyer, Universität Jena.
Herr Wagner, Sie wurden zuletzt wiederholt bedroht, beispielsweise mit retuschierten Bildern von Ihnen am Galgenstrick. Wie geht es Ihnen eigentlich?

Mir geht es gut. Diese Leute wollen einschüchtern und diesen Gefallen sollte man ihnen nicht tun. Ich kann nicht behaupten, dass eine Parole wie „Ein Galgen, ein Strick, ein Wagnergenick völlig spurlos an mir vorbeigeht. Natürlich macht das was mit einem. Aber davon sollte man sich nicht allzu sehr beeindrucken lassen. 

Feinde der Demokratie wagen sich zunehmend aus der Deckung, eigentlich Unsagbares wird wieder sagbar. Warum gerade jetzt?

Wir erleben das ja eigentlich seit Jahren, dass die extrem rechte Szene sich radikalisiert. Sie hat leider auch Zuspruch unter nicht wenigen Mitmenschen, insbesondere hier in Thüringen, aber auch in anderen Bundesländern. 

Sie haben in der letzten Ausgabe des Spiegel gesagt, „Thüringen sei perfekt für Republikfeinde“.

Thüringen ist ein ländlich geprägtes Bundesland. Zugleich ist das Phänomen rechtspopulistischer und rechtsextremer Positionen gegen die liberale Demokratie und eine vielfältige Gesellschaft ja auch ein Gegensatz zwischen Stadt und Land. Erstens hat es die AfD in ländlichen Gebieten deutlich leichter. Zweitens hat sie es in klassisch protestantisch geprägten Gebieten leichter als in katholisch geprägten, weil es in letzteren noch eine starke sozial-moralische Bindung an die CDU gibt, wie etwa im Thüringer Eichsfeld. 

Und warum diese Drohungen hier und jetzt?

Ich habe solche Drohungen  auch früher schon bekommen, aber jetzt war es doch relativ massiv. Und das ist ganz konkret eine Folge der aufgeheizten Stimmung vor den Landtagswahlen und noch konkreter auch Folge eines Briefes, den wir, finanziert über Campact, an alle über 65-jährigen Thüringerinnen und Thüringer verschickt haben. Über diese Postwurfaktion hat der Landesvorstand der AfD gezielt Desinformation verbreitet. Unter anderem, dass wir Steuergelder dafür verwendet  hätten, was nicht wahr ist. Außerdem, dass wir gegen den Datenschutz verstoßen hätten, was genauso Mumpitz ist, weil das eine Postwurfsendung ist. Wir haben die Adressen überhaupt nicht. Das läuft über Verteiler der Deutschen Post. Trotzdem hat diese Hasskampagne einige Menschen veranlasst, wirklich sehr, sehr böse und beleidigende bis hin zu bedrohenden Nachrichten zu schicken. 

350.000 Briefe haben Sie verschickt – allerdings nur an über 65-jährige. Warum?

Hätten wir mehr Geld gehabt , hätten wir die Briefe auch an alle Jüngeren geschickt. Zudem haben wir uns auf eine Zielgruppe beschränkt, von der wir ausgehen, dass sie vielleicht für digitale Information nicht so zugänglich ist. Außerdem haben wir letztes Jahr bei der Bürgermeisterwahl in Nordhausen, dem Standort unserer zweiten Gedenkstätte Mittelbau-Dora, die Erfahrungen gemacht, dass es die älteren Menschen waren, die am Ende dazu beigetragen haben, dass wider aller Voraussagen der demokratische Oberbürgermeisterkandidat die Wahl gewonnen hat. 

Die Älteren haben’s gerettet?

Junge Menschen sind mittlerweile in der vierten Generation und die haben Großeltern, die die nationalsozialistischen Verbrechen gar nicht mehr selbst erlebt haben. Das ist für sie auf den ersten Blick irgendetwas, was im finsteren Mittelalter stattgefunden hat. Das mag ein Grund sein. Der zweite Grund ist, glaube ich, dass jüngere Menschen sehr viel stärker auf Social Media unterwegs sind. Und ich glaube, dass die Digitalisierung unserer Informationsgesellschaft in den letzten Jahren dazu beigetragen hat, dass sich rechtsextreme Einstellungen, Antisemitismus, Rassismus oder Queer-Feindlichkeit weiterverbreiten konnten, weil Wissensaneignung und Meinungsbildung eben mittlerweile im Netz stattfindet. 

Da werden massiv geschichtsrevisionistische Legenden geteilt

Wenige Klicks und man landet bei Holocaust-Leugnern.

Noch vor 20, 30 Jahren musste man sich Holocaust-verharmlosende Bücher bei obskuren Verlagen mit Postfachadressen besorgen. Da ist man gar nicht so leicht rangekommen. Heutzutage sind das zwei Klicks, die ich brauche, um auf geschichtsrevisionistische Desinformation zu stoßen. So etwas verbreitet sich viral, setzt sich in den Köpfen fest. Und das merken wir zum einen bei den Besucherinnen und Besuchern der Gedenkstätten, aber natürlich auch, wenn wir die Kommentare unter unseren Posts beobachten. Da werden massiv geschichtsrevisionistische Legenden geteilt.  

Einer dieser Kanäle ist X, vormals Twitter: Dort und woanders sind Sie sehr aktiv – warum? Spätestens seit Elon Musks Übernahme stehen Demokratiefeinden ja wieder Tür und Angel offen.

Bis vor zwei Jahren etwa war ich ein großer Fan von Twitter und wir haben wirklich auch gute Erfahrungen gemacht, weil man darüber wichtige Zielgruppen wie Journalisten und Politikerinnen erreicht hat, aber auch Wissenschaftler. Da war Twitter tatsächlich ein Medium, um sich auszutauschen. Das ist mittlerweile anders geworden unter Musk. Und tatsächlich ist das hochgradig ambivalent, da immer noch aktiv zu sein. 

Viele haben der Plattform den Rücken gekehrt und erst kürzlich hat sogar Brasilien den Dienst wegen Desinformation und Hetze landesweit gesperrt.

Ja, mittelfristig werde ich selbst und wird sicherlich auch die Stiftung Twitter verlassen. Wir haben es bisher noch nicht gemacht, aus zwei Gründen: Die Alternativen, die es gibt, sind nicht wirklich erfolgreich. Darüber hinaus sind die Multiplikatoren, die wir über Twitter erreichen, größtenteils noch dort, also zum Beispiel Vertreter der Medien, aber auch Politikerinnen und Politiker. Das Hauptargument ist, dass Twitter jetzt einer Person gehört, die versucht, damit Geld zu verdienen und  mittlerweile selbst im extrem rechten Milieu angesiedelt ist. 

Wie sieht das offline aus: Bemerken sie diese geschichtsrevisionistischen Parolen in der Gedenkstätte?

Ja, doch das ist immer noch eine sehr kleine Minderheit, die so etwas macht. Aber eine Minderheit, die zunehmend im Brustton der Überzeugung auftritt, und zwar zunehmend laut und aggressiv. Wobei das nicht immer auch so anfängt. Meistens fängt das an mit irgendwelchen Signalwörtern oder Signalfragen. 

Das Phänomen des Dogwhistlings, also wenn wie bei einer Hundepfeife nicht alle dasselbe hören.

Genau. Dann wird man gefragt: Ja, jetzt haben wir viel über Buchenwald gehört und das ist ja auch alles ganz schrecklich, was Sie erzählt haben. Aber jetzt sagen Sie doch mal was über die Rheinwiesenlager, die Luftangriffe auf die deutschen Städte, die Vertreibung aus den Ostgebieten, die europäische Unterwerfung der Indigenen in Amerika, die Sklaverei, Guantanamo… Das begegnet uns massiv. 

Whataboutism wie ihn auch die AfD betreibt. Die in Teilen rechtsextreme Partei feiert – unabhängig ob regierungsbeteiligt oder nicht – einen großen Erfolg bei der Wahl in Thüringen. Inwiefern beeinflusst das Ihre Gedenkstättenarbeit?

Zum einen in ideologischer Hinsicht, indem natürlich die gegen die Gedenkstättenarbeit gerichtete Positionen, die aus der AfD kommen, gestärkt werden. Wenn diese Partei erstarkt, werden sich geschichtsrevisionistische Positionen in den Köpfen weiter festsetzen. Und das andere ist eine ganz praktische Folge: Wenn die AfD beispielsweise eine Sperrminorität bekommt und damit Einfluss auf die Tagesordnung des Landtags hat, kann sie beispielsweise verhindern, dass ein Haushalt verabschiedet wird. Völlig unabhängig davon, ob sie an der Regierung beteiligt ist oder nicht, kann das dann Folgen für unsere Arbeit haben. 

Inwiefern?

Wir bekommen unser Geld zu 50 Prozent aus dem Landeshaushalt, die andere Hälfte kommt aus dem Bundeshaushalt.  Wenn unser Landeshaushalt nicht verabschiedet wird oder im Landeshaushalt unsere Zuwendungen reduziert werden, dann werden wir letzten Endes unsere Bildungsarbeit hier nicht mehr machen können. Das ist eine reale Gefahr. Es gibt dann in Thüringen noch eine Gedenkstätte an einem Außenlager-Standort. Das ist die kleine Gedenkstätte Laura im Thüringer Wald. Deren Arbeit wird vom Landkreis Saalfeld-Rudolstadt finanziert. Wenn dort die AfD die Mehrheit bekommt, können diese Zuwendungen sehr schnell auf Null gesetzt werden, denn das sind sogenannte freiwillige Leistungen, zu denen ein Landkreis nicht verpflichtet ist. 

Rechtsextreme haben es hier traditionell immer leicht gehabt

Hat der für rechte Parolen fruchtbare thüringische Boden auch historische Gründe?

Rechtsextreme haben es hier traditionell immer leicht gehabt. Da gibt es Kontinuitätslinien. Thüringen war in den 20er-Jahren bereits ein Sprungbrett für die Nationalsozialisten. Es gibt drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich. 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Alles in Thüringen.  

Geschichte wiederholt sich nicht, aber reimt sich, heißt es.

Schon, nun gibt es auch etliche Unterschiede zu den 20er- und 30er-Jahren und man sollte vorsichtig sein mit falschen historischen Analogien. Aber tatsächlich kann der Blick auf die Geschichte ja Wachsamkeit stärken, zum Beispiel indem man den bürgerlich-konservativen Parteien sehr deutlich sagt: Lernt bitte aus den Fehlern eurer politischen Vorgänger und geht keinerlei Kooperation mit der AfD ein, auch keine informelle Tolerierung oder was auch immer. Keine Absprachen. Das muss man ihnen ganz deutlich sagen. Und Mario Voigt sagt auch, dass er das nicht tun wird. Ihm selbst nehme ich das auch ab. Es gibt allerdings in der zweiten und dritten Reihe der CDU durchaus Menschen, die mit einer Zusammenarbeit liebäugeln. Das macht mir tatsächlich Sorgen. Und dann haben wir noch ein weiteres, großes Sorgenkind in Thüringen… 

… Sie meinen das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), bislang ja eine große Blackbox, eine Projektionsfläche.

Genau. Bei dem ist gerade erst rausgekommen, dass einer der maßgeblichen Politiker ein früheres AfD-Mitglied ist. Und da verwundert es dann nicht, dass aus den Reihen des BSW eine Zusammenarbeit mit der AfD als möglich angesehen wird. Es könnte wirklich eine Katastrophe für Thüringen werden, sollte es eine Koalition aus BSW und AfD geben. 

Welchen Einfluss hätte ein starkes BSW mit eventueller Regierungsbeteiligung auf Ihre Gedenkstätte?

Ich habe mir das Wahlprogramm des BSW in Thüringen angesehen. Es ist außerordentlich dünn. Der Vorteil ist, dass man es sehr schnell lesen kann. Da steht sogar was drin von Gedenkstätten-Förderung im Gegensatz zur AfD. Da steht sowas natürlich überhaupt nicht drin. Im Gegenteil. Ein Hauptthema des BSW jedenfalls ist sicherlich das Thema Ukrainekrieg und Putin-Nähe. Das spielt eine ganz starke Rolle. Dann appelliert das BSW – ähnlich wie es die AfD tut – an niedere Instinkte oder an Ressentiments gegenüber der Moderne. 

Es gibt Überschneidungen zwischen BSW und AfD

In Thüringen hängen BSW-Plakate, auf denen steht „Rechnen statt Gendern“.

Es gibt durchaus Überschneidungen zwischen den beiden Parteien, beispielsweise hinsichtlich einer gewissen autoritären Prägung. Ich halte das BSW für eine leninistische Partei, die gleichwohl auch nationalistische Positionen vertritt, migrationsfeindliche und generell antiliberale, antimoderne Positionen. Und da ist man in Teilen deckungsgleich mit der AfD, ganz jenseits einer Hufeisen-Theorie. Im Übrigen halte ich das BSW nicht für eine linke Partei. Es ist eine mindestens populistische Partei. Und das Ganze dann noch garniert mit einer Form von DDR-Nostalgie und Antiamerikanismus. Der spielt eine überaus starke Rolle und ist eine Parallele zur AfD. 

Das BSW in Regierungsverantwortung – der Worst Case?

Sollte es zu einer BSW-Beteiligung an der Regierung kommen, dann müssen wir damit umgehen, dass Mitglieder dieser Partei die Regierung mittragen. Ein schöner Gedanke ist das nicht, aber kein so katastrophaler, wie die AfD in der Regierung zu haben, weil diese dezidiert geschichtsrevisionistische, Holocaust-verharmlosende  und sogar -leugnende sowie NS-verherrlichende Positionen verbreitet. Das kommt aus dem BSW nicht. Das ist tatsächlich ein Unterschied.  

Wo Sarah Wagenknecht ist, ist es mit Sehnsucht an eine verklärende Vergangenheit, die es so wohl nie gab, nicht weit. Wie steht es grundsätzlich um den Schatten der DDR?

Ich glaube tatsächlich, dass die DDR-Prägung, ihre Geschichte und ihre Folgen nach 1990 eine große Rolle spielen. Die Transformationsphase in den 90er-Jahren, das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, aber auch die ganz reale Situation, dass viele, viele Menschen in Arbeitslosigkeit gestürzt wurden und viele, gerade die Älteren, auch nicht mehr auf die Füße gekommen sind. Das hat sicherlich Spuren hinterlassen. Und zwar nicht nur bei denen, die damals direkt beteiligt waren oder Opfer dieser Transformationen geworden sind, sondern auch bei deren Kindern und Kindeskindern. Sowas wird in der Familie weitergegeben, übrigens auch in den Schulen. Doch häufig wird nicht genug darauf geblickt, dass auch die Zeit vor 1989, glaube ich, für die Prägung von politischen Einstellungen in Ostdeutschland eine starke Rolle spielen. Ich meine die autoritäre, antiwestliche, antiamerikanische, antizionistische Sozialisation der Menschen in der DDR. Und die merkwürdig ambivalente Haltung gegenüber dem Staat: einerseits der Glaube, dass er alles für mich tun muss und für mich entscheidet, andererseits ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat.  

Das klingt schizophren.

In der Tat. Auch die DDR-Geschichtspolitik spielt meines Erachtens eine Rolle. Wir müssen feststellen, dass die Geschichtsbilder der SED für rechtsextreme westdeutsche geschichtsrevisionistische Positionen durchaus anschlussfähig sind. Ich will versuchen, es zu erklären. 

Bitte.

Das Geschichtsbild der DDR folgte der Dimitroff´schen These. Also der These, dass der Faschismus die Herrschaft der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals gewesen sei. Nach 1945 sind die Monopolkapitalisten natürlich alle in den Westen verschwunden. Deswegen hieß auch die erste Dauerausstellung in Buchenwald „Die Blutspur führt nach Bonn“. Deswegen war der Schwur von Buchenwald, der von den Häftlingen am 19. April 1945 gesprochen wurde, gewissermaßen das Leitbild der DDR, In einer Zeile heißt es: “Die Vernichtung des Faschismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung.” 

Mit welchen Folgen?

Das wurde in der DDR massiv verbreitet. Die Wurzeln des Faschismus seien natürlich der Kapitalismus und der Imperialismus westlichen Zuschnitts, auch das ist antiamerikanisch aufgeladen. Man kann es sogar antisemitisch einlesen. Stichwort „Ostküste“. Dieses Geschichtsbild wurde hier in Buchenwald inhaltlich vertreten. Aber wenn man sich dieses DDR-Geschichtsbild vor Augen führt, das sehr stark antiwestlich, antiliberal, antiamerikanisch aufgeladen war, dann hat das sozusagen eine innere Logik, wenn die Weimarer „Montagsspaziergänger“, eine krude Mischung aus AfD, Reichsbürgen und Putin-Anhängern, bei ihrer Hetze gegen die liberale Demokratie und die angebliche Ampel-Diktatur die Schwurhand des DDR-Mahnmals in Buchenwald von 1958 als Logo missbrauchen und damit behaupten, die stünden in der Tradition des antifaschistischen Widerstandkampfes. Diese Leute verbreiten dezidierte NS-Verherrlichung und behaupten zugleich, Antifaschisten zu sein: irre. 

Und natürlich wird auch von vielen ganz bewusst Begriffsverwirrung betrieben, mit „Nazi“ und „Faschist“, um gewissermaßen der Gegenseite ein Argument zu nehmen, indem der Begriff dermaßen entleert wird, dass er in der politischen Auseinandersetzung gar nicht mehr eingesetzt werden kann. 

Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur aussehen, die nicht all die Arbeit bei Ihnen als Gedenkstätte abstellt?

Zwei Dinge. Erstens glaube ich, dass es wirklich notwendig ist, dass wir uns auch politisch sehr viel stärker mit der DDR auseinandersetzen, aber auch mit den Ereignissen 1989. Wir müssen schauen, was denn 1989 vor Ort passiert ist. Diejenigen, die jetzt auf der Straße stehen und behaupten, sie kämpften gegen das Ampelregime, so wie sie vor 35 Jahren gegen das DDR-Regime gekämpft hätten – das ist ja Mumpitz. Es gibt ein paar ehemalige Bürgerrechtler, die tatsächlich im rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu mittlerweile verankert sind. Aber die meisten, die da jetzt auf den Straßen herumlaufen, die saßen 1989 zu Hause und sind allenfalls erst auf die Straße gegangen, als es keinerlei Gefahr mehr bedeutete. 

Und zweitens?

Wir müssen insgesamt in der Gesellschaft stärker darauf achten, dass unsere Erinnerungskultur nicht nur darin besteht, um die Opfer zu trauern oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren. Das ist meines Erachtens eine Anmaßung aus der Post-Tätergesellschaft heraus. Wir müssen fragen, warum diese Leute überhaupt zu Opfern wurden. Das heißt, danach zu fragen, wer sie zu Opfern gemacht hat, wer die Mittäter und Mittäterinnen waren, wer die Profiteure waren. Und wir müssen uns fragen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal rassistisch und antisemitisch -formierte Gesellschaft funktioniert hat. Diese Gesellschaft stand auf zwei Säulen: den Integrationsangeboten an die propagierte „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung, Verfolgung und Mord an denen, die nicht dazugehören sollten. Die Deutschen hat es nicht gestört zu hören: Euch geht es besser, wenn es anderen schlechter geht. Ganz im Gegenteil. Das haben sie gerne gehört und es hat mehr Bindungskräfte an das Regime freigesetzt. Genauso wie Ideologien der Ungleichwertigkeit, völkische Leistungsideologien oder die Unterscheidung zwischen Produktiven oder Unproduktiven. 

Das klingt nach der Bürgergeld-Debatte.

Ja. Das sind alles Dinge, die man zunächst wissenschaftlich sauber quellengestützt aus der Geschichte herausarbeiten muss. Und dann kann man Aktualitätsbezüge herstellen und fragen: Wie sieht es denn heute aus mit Ideologien der Ungleichwertigkeit, mit Produktivitätsideologie, mit Verheißungen der Ungleichheit, die gerade ja auch von der AfD in die Welt gesetzt werden? Das ist in meinen Augen eine kritisch-reflexive, wissenschaftliche und quellengestützte Auseinandersetzung mit aktuellem Bezug. Das müssen wir stärker machen. 

Das ist ein Unterschied zu 1933

Sie haben in einem älteren Interview gesagt, dass die gegenwärtigen Entwicklungen sich wie ein erinnerungspolitischer Klimawandel anfühlen. Wagen Sie eine meteorologisch-metaphorische Einordnung anlässlich der Landtagswahlen in Thüringen?

Tja, vielleicht hat sich der Klimawandel zur Klimakrise gesteigert? Es ist noch nicht zu Klimakatastrophe, aber zur Klimakrise auf jeden Fall. 

Das klingt mindestens besorgniserregend.

Ja, das hat aber nicht nur mit der AfD zu tun, sondern auch mit dem zeitlichen Abstand zu 1945. Mit dem Umstand, dass es eigentlich kaum noch Menschen gibt, die den Nationalsozialismus selbst erlebt haben. Der Schutzschirm, den die Überlebenden über unsere Arbeit gespannt haben, gibt es nicht mehr. Wenn sich vor zehn Jahren so etwas geregt hätte wie jetzt mit der AfD, dann hätte es die breite Protestwand der Überlebenden gegeben. Das ist jetzt kaum noch möglich. Und demnächst werden wir komplett alleine dastehen. Deswegen brauchen wir auch die Zivilgesellschaft, die uns unterstützt. Und die haben wir hier in Thüringen. 

Beispielsweise die Initiative „Weltoffenes Thüringen“.

Die ist wirklich gut angelaufen. Da bin ich sehr froh. Und das ist übrigens auch ein Unterschied zu 1933. Da gab es diese breite Unterstützung für den liberalen Rechtsstaat, für die offene, für vielfältige und moderne Gesellschaft nicht. Die haben wir jetzt trotz aller Wahlerfolge der Rechtsextremen. 

Danke für das Gespräch, Herr Wagner. 

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