Beim Fokus auf Bildung scheint es einen blinden Fleck zu geben: die massive Unterrepräsentation von weiblich gelesenen Personen in den MINT-Fächern. Doch woran hakt es?
Bildung ist der Klassiker unter den Wahlkampfthemen auf Landesebene – auch bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein. So führt jede größere Partei, von rechts bis links, Bildung mehr oder weniger in ihrem Wahlprogramm mit auf. Doch es scheint einen blinden Fleck zu geben: die massive Unterrepräsentation von weiblich gelesenen Personen in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik).
Zu beschäftigen scheint das aber nur die Grünen und die FDP. Nur sie beziehen sich in ihrem jeweiligen Wahlprogramm auf die Förderung von Frauen im MINT-Bereich über den gesamten Ausbildungsweg hinweg: Programme sollen entwickelt, Angebote ausgebaut werden. Wirklich konkret werden die Parteien aber nicht.
Fest steht, dass diesem Problem nicht allein durch Absichtserklärungen beizukommen ist. Für die Herausforderungen der Zukunft muss es gut ausgebildete Leute geben. Wenn von vornherein die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen wird, kann das Problem des geringen Frauenanteils gar nicht erst behoben werden.
Ein Blick auf die Zahlen: Im Prüfungsjahr 2019 waren von den Studienbeginner*innen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 53 Prozent weiblich. Mit 59 Prozent fällt der Anteil der Absolventinnen noch deutlicher aus. Ein ganz anderes Bild zeichnet sich bei der Technischen Fakultät. 2019 lag der Frauenanteil unter den Studierenden der „Elektrotechnik und Informationstechnik“ bei gerade einmal 15 Prozent.
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ein Land, das sich für seine Ingenieurskunst und Innovationsstärke feiern lässt, an dieser Stelle ein so enormes Defizit aufweist? Internationale Studierende aus Indien und Bangladesch wundern sich, wo die Kommilitoninnen sind, die das Bachelorstudium in ihrer Heimat viel selbstverständlicher mitgestaltet haben. Und hier berichten Studentinnen aus technischen Studiengängen, dass sie zum Teil wie exotische Tiere in einem Zoo beäugt werden.
Woher das kommt? Die simple Antwort: das Patriarchat. Veraltete Rollenbilder und Stereotype, die nicht nur am laufenden Band reproduziert und vererbt, sondern auch durch einen Mangel an Vorbildern als alternativlos vorgelebt werden.
Bereits in frühster Kindheit wird die Vorstellung geschaffen, dass Mädchen nett und schön sein müssen, um glücklich im Leben zu sein. Jungs dagegen dürfen stark und schlau sein. Sie müssen es sogar sein. Denn so, wie ein Junge auf seinem Weg zum Erzieher belächelt und verspottet wird, wird ein Mädchen mindestens auf Skepsis stoßen, wenn es sich für Mathe und Naturwissenschaften begeistern kann.
Frauen in Natur- und Technikwissenschaften müssen sich Phrasen wie „Was, so was machst du als Frau?!“ oder „Das sind gar keine richtigen Frauen!“ anhören. Solche Aussagen können verheerend sein. Für Motivation und Selbstverständnis. Wie wäre es stattdessen mal mit einem „Wow, cooler Studiengang!“? Dass Leute ihre Passion nicht verfolgen oder gar nicht erst entdecken, weil sie bereits vorher von einem Berg aus stereotypischen Rollenbildern eingeschüchtert wurden, ist ein gesamtgesellschaftlicher Verlust. Soll so Bildungsgerechtigkeit aussehen?
Es liegt nahe, mit Quoten gegensteuern zu wollen. Doch sie greifen ins Leere, wenn es die Frauen dafür nicht gibt. Verirrt sich dann doch mal eine in die Natur- oder Technikwissenschaften, muss sie bei allem dabei sein. Ausschüsse und Gremien sollen schließlich paritätisch besetzt werden. In wie vielen Ausschüssen soll eine engagierte Studentin neben ihrem anspruchsvollen Studium sitzen? Vier, fünf? Allein, weil es schlicht an möglichen Vertreterinnen fehlt.
Damit ein Umdenken einsetzt, fordert die Grünenpolitikerin Ann-Kathrin Tranziska gemeinsam mit Studentinnen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine Diskussion, in der etablierte Prozesse und Abläufe aktiv reflektiert werden. Junge Mädchen und Frauen müssen direkt angesprochen werden. Dafür brauche es sensibilisiertes Betreuungs- und Ausbildungspersonal, von der Kita bis zur Meisterausbildung oder zum Studium, so Tranziska.
Es wird Zeit für ein neues Image der MINT-Fächer. Was soll sich eine junge Frau auch denken bei Reimen wie „Tausend Männer, eine Frau, ich studier` Maschinenbau“? Etwa „Super, da werde ich mich richtig wohlfühlen?“ Nicht gerade attraktiv für junge Frauen.
Elektrotechnik und Ingenieurswissenschaften haben unter dem Namen „Medizin- und Umwelttechnik“ mit nahezu identischem Inhalt einen höheren Frauenanteil. Vielleicht, weil dem Fach so nicht die etablierten Stereotypen von Karohemden anhaften. Wahrscheinlicher aber, weil es gezielt ein Anwendungsfeld skizziert, dass das Potenzial birgt, zu erfinden, zu bauen und nebenbei die Welt zu verbessern. Eine Motivation vieler Studentinnen, während für viele männliche Studienanfänger der versprochene Profit als Berufseinsteiger entscheidend für ihre Studienwahl ist.
Wenn wir als Gesellschaft alle ansprechen, werden sich auch mehr Ingenieurinnen und Frauen im MINT-Bereich wiederfinden. Frauen könnten dann ebenso selbstverständlich Roboter „basteln“, wie in der Kita Muttertagsgeschenke. Mit mehr Frauen in der Technik wird die Google-Suche dann hoffentlich auch bald nicht mehr nur Heinrich Hertz, Werner von Siemens oder Georg Simon Ohm bei der Eingabe „bekannte Elektrotechnikerinnen“ ausspucken. Aber bis dahin muss noch viel passieren.